Du bist schön, meine Freundin
Menschliche Schönheit ist zu allen Zeiten ein Thema, aber schön zu sein ist kein Verdienst. Es ist einfach Glück, wenn man das Erbe von Ahnen antreten kann, die mit ihren Genen die Ursache liefern für eine ausnehmend schöne Erscheinung ihrer Nachkommen.
Früher sprach man noch ehrfurchtsvoll vom Antlitz, wenn es sich um ein besonders hübsches Angesicht handelte; doch der eine wie der andere Begriff ist aus der Mode. Heute bedient man sich umgangssprachlich des, aus dem Französischen entlehnten, bei deutschem Gebrauch jedoch minderwertig klingenden Begriffes Visage. In dem Wort steckt eine nicht geringe Portion Geringschätzung, soweit es sich um die Beschreibung eines menschlichen Gesichtes handelt. Egal, wie ein Mensch äußerlich beschaffen ist, hierzulande besitzt jeder eine gesetzlich verbriefte, unantastbare Würde und ist somit einzigartig. Wir vergessen es nur immer wieder.
Vor vielen Jahren kannte ich in Köln eine bemerkenswert schöne Frau um die 50, die von sich gesagt hat: „Ich finde, ich bin ein gut gelungenes Gesamtkunstwerk. Dachte ich doch schon lange, da muss ein Meister am Werk gewesen sein!“ Ihre ungeniert ausgesprochene Selbstwahrnehmung hörte sich überhaupt nicht peinlich an; vielmehr bezeugte die Frau mit dem Sinn ihrer Worte mehr Ehre für Gott als manch anderer.
Wer kann sich schon selbst so kompromisslos annehmen? Hat etwa nicht jede und jeder Problemzonen, gegen die man wenig tun kann? Wusste doch schon Seneca, der römische Philosoph, dass „die Harmonie der Seele mit sich selbst das höchste Gut ist“.
Für die Schönheit braucht es den liebenden Blick
Im Grunde hält sich wohl kaum jemand schon für unwiderstehlich, wenn er erkennt, was für ein Wunderwerk er als Mensch in Wirklichkeit ist. Aber jeder könnte von sich selbst durchaus wohlwollend empfinden, wenn er oder sie erst einmal Bescheid wüsste, wie vielfältig und zuverlässig unser Organismus ist, und wie tadellos er über lange Zeit trotz vieler Zumutungen funktioniert; wir kämen aus der Bewunderung dafür gar nicht mehr heraus.
Schönheit ist Harmonie in Vollkommenheit. Um sie wahrzunehmen, braucht es den liebenden Blick. „Du bist schön, meine Freundin“, sind Worte, die ein junger Mann im alttestamentlichen Hohen Lied der Liebe (König Salomo zugeschrieben) seiner Auserwählten widmet, und ganz glückselig besingt auch sie seine Erscheinung. Zwei junge Menschen, die überwältigt sind von dem Wunder füreinander; sie gehören mit Recht in der Bibel zur Weisheitsliteratur (HI 1,15).
Verständlich, dass auch der junge Jakob aus dem Alten Testament völlig überwältigt ist, als er auf einem Feld seines Onkels Laban dessen ungewöhnlich hübsche Tochter Rahel erblickt. Bevor er die junge Hirtin jedoch zu seiner Frau nehmen kann, muss er ihrem Vater viele Jahre um sie dienen. Endlich am Ziel, fällt er trotzdem noch der gut gemeinten Absicht Labans zum Opfer, der seine ältere Tochter Lea (für die sich bisher kein Mann interessiert hatte) vor der jüngeren Rahel verheiratet wissen wollte.
Martin Luther beschreibt Leas Erscheinung so: „Sie hatte ein blödes Gesicht“ (Gen 29,17). In der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift heißt es etwas barmherziger: „Ihre Augen waren matt.“
Schönheit ist nicht allein reine Äußerlichkeit; sie wurzelt ganz tief im Inneren eines Menschen. Man strahlt aus, welche Gefühle und Gedanken einen beschäftigen. Es sind auch nicht nur aparte Gesichtszüge; es ist die gesamte Haltung, mit der man punkten kann.
Schönheit kann leicht zur Bürde werden, wenn man von frühester Kindheit an auf seine äußeren Reize reduziert wird. Erwartung und Leistung stehen dann manchmal in einem fragwürdigen Verhältnis zueinander. Eine Erscheinung, die ins Auge fällt, kann sich hie und da schon mal als Karrierebeschleuniger erweisen.
Falten sind Lebenslinien
Auffallend schön zu sein, ist kein Privileg der Jugend. Wenn Schönheit altert, verblüht sie nicht; sie reift! Konturen werden schärfer und Rücken gebeugter; Schritte werden kleiner, weil man nicht mehr so weit ausholen kann. Und den Kopf trägt man auch nicht mehr so hoch.
Ein betagtes Gesicht trägt die Spuren gelebten Lebens. Das, was abschätzig Falten genannt wird, sind in Wirklichkeit Lebenslinien, die die Jahre uns ins Gesicht gezeichnet haben. Niemand kann seine Lebensgeschichte wegradieren wie eine vorläufige Skizze. Wir sind trotzdem allesamt gut gelungene Kunstwerke, die ihrem Schöpfer Ehre erweisen können, halten es aber dennoch mit dem Beter des Psalms: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12).
Herma Brandenburger
Bild: igor/AdobeStock
Hier finden Sie weitere Artikel aus "das zeichen"
Das könnte Sie auch interessieren
Mitreden, Mitmachen, Mithelfen!
In Kontakt bleiben. Kostenlos 12 x pro Jahr!
Pallotti per Post: 4 x im Jahr kostenlos!
Impulse in Büchern, CDs, Whitepapers u.v.m
Öffnen Sie sich Räume
Gemeinsam die Welt verändern!