„Der Tod ist die beste Erfindung des Lebens“
Die Zeit ist knapp, die Zeit ist begrenzt, darüber klagen wir immer wieder: Dabei verleiht die Begrenztheit der Zeit vielen Dingen erst ihren Wert, wie wir aus vielen Lebenssituationen wissen.
Mit einem guten Freund war ich vor zehn Jahren in Nashville, Tennessee in den USA. Die Stadt hat eine Vielzahl guter Kneipen mit wunderbarer Live-Musik. Wir sind da mehr zufällig reingerutscht und haben jede Minute genossen. Schade nur, dass wir so wenig Zeit hatten und nach knapp zwei Stunden wieder gehen mussten. Das nächste Mal würden wir dort einen schönen langen Abend einplanen.
Tatsächlich gab es ein nächstes Mal, rund drei Jahre später. Schon kurz nach sieben Uhr saßen wir in der ersten Musik-Bar. Der Abend zog sich wie ein Kaugummi. Statt das unbegrenzte Vergnügen zu genießen, wurde es irgendwie zur Qual. War ja auch nichts mehr Neues, außerdem wurde ich ziemlich müde. Mein Freund leider nicht. So bekamen wir uns über die Frage, wann wir endlich gehen, beinahe in die Haare. Ach, hätten wir doch nur einen Anschlusstermin gehabt, wie beim letzten Mal, dann wäre uns das erspart geblieben.
Wie man sich täuschen kann!
Ich habe über diese beiden Erlebnisse oft nachgedacht. Wie man sich doch täuschen kann. Es ist wie mit den drei Programmen im Fernsehen: Als es sie noch gab, ganz ohne Mediathek, Kabel- und Satelliten-TV, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass es Filme im Überfluss gäbe. Wie hatte ich doch lange Zeit die Amerikaner um ihre 100 Kanäle beneidet!
Als sie dann endlich auch bei uns Realität waren, war der Reiz schnell verflogen. Die zehnte Wiederholung von „Casablanca“ machte auch diesen wunderbaren Film irgendwie belanglos, die unbegrenzte Verfügbarkeit von alten John-Wayne-Western ließ mich schon bald ihre Sendetermine ignorieren. Schade eigentlich, wo man sich früher doch so auf das Programm gefreut hatte.
Zeit ist etwas Kostbares, aber nur, wenn sie nicht unbegrenzt zur Verfügung steht. Das gilt wohl irgendwie auch für die Sendezeit im Fernsehen. Mit dem Urlaub verhält es sich, Stichwort Nashville, ganz ähnlich: Es ist ein Trugschluss, dass das, was wir in kleinen Dosen genossen haben, bei Verdoppelung der Menge automatisch zweimal so schön ist. Ein kurzes Wochenende voller kleiner Überraschungen kann erholsamer sein als eine ausgedehnte Woche am Strand, deren Ende wir insgeheim herbeisehnen.
Maßhalten ist generell eine gute Idee. Dass das auch für die Zeit gilt, war mir lange nicht klar. Wenn man jung ist, glaubt man sie im Überfluss zu haben. Dann merkt man plötzlich, wie sie verrinnt und schließlich fragt man sich, wo sie geblieben ist. Irgendwann stellt sich die Frage, ob man seine Lebenszeit auch wirklich sinnvoll genutzt hat oder ob sie nur ohne Maß und Ziel vergeudet wurde.
Nutzt eure Zeit
Es war eben das, was der amerikanische Computer-Pionier Steve Jobs bei einer Rede an der Universität Stanford im Juni 2005 den versammelten Studenten und Studentinnen einzubläuen versuchte: Nutzt eure Zeit, lebt euer Leben, arbeitet nicht bloß die Erwartungen anderer ab, sondern fragt euch, was ihr wirklich wollt und was Ihr mit eurer Zukunft anzustellen gedenkt.
Jobs überschrieb das mit der ungewöhnlichen Formel: „Der Tod ist die beste Erfindung des Lebens.“ Nur weil wir sterben müssen und die Zeit auf Erden begrenzt ist, werden wir überhaupt gezwungen, über ihre Verwendung nachzudenken. Das war auch deshalb eine bemerkenswerte Feststellung, weil der Redner schon damals an Bauchspeicheldrüsenkrebs litt und unmittelbar vor Augen hatte, wie begrenzt seine Zeit doch ist.
Es ist nicht lustig, dem Tod ins Gesicht zu schauen. Aber er ermahnt uns tatsächlich, immer mal wieder darüber nachzudenken, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen wollen und womit wir sie verplanen. Es hat ein Weilchen gedauert, bis mir klar wurde, dass auch das ein Problem ist: Dass wir zu viel planen.
Als wir das erste Mal in der Musik-Bar in Nashville waren, hatten wir das überhaupt gar nicht vor. Und eben deswegen war es so gut. Überraschung! Es gibt viel zu wenig davon in unserem Leben. Das hat auch damit zu tun, dass wir ihr kaum Raum und Zeit geben. Statt Neues zu wagen, wiederholen wir sicherheitshalber das Alte. Und sind, oh Wunder, immer wieder enttäuscht.
In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, bei einer Städtereise nicht mehr großartig vorzuplanen. Ich lasse mich treiben, spaziere durch Häuserschluchten, lasse mich überraschen, wem und was ich dort begegne. Manchmal gehe ich dann auch in eine Kirche hinein, die zufällig auf dem Weg liegt und die in keinem Reiseführer steht. Es ist etwas Wunderbares: Ein paar kostbare Minuten ganz für mich selbst, in denen ich vielleicht auch ein kurzes Gebet sprechen kann.
Wir brauchen nicht nur Zeit für andere, sondern auch für uns und unsere Seele. Ein paar wenige Tage oder Stunden können da Wunder wirken. Doch auch hier gilt: Das zeitlich begrenzte Alleinsein kann eine Wohltat sein, haben wir zu viel davon, beginnen wir uns einsam zu fühlen.
Mit dem Freund verstehe ich mich übrigens noch immer sehr gut. Bald danach haben wir uns über die beiden Abende in den Musik-Bars ausgesprochen und mussten darüber herzlich lachen. „Live and learn“, hat er nur gesagt. Das klingt wie guter Songtitel, vielleicht wird er ja irgendwo einmal auf einer Bühne gespielt. Es muss ja nicht gerade in Nashville, Tennessee sein.
Andreas Steidel
Bild: Lisa Bahnmüller
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