Die Wahrheit finden
Wie sie von Theologen und wie sie von Journalisten gesucht wird. Und was Bibel und Grundgesetz dazu sagen.
Christoph Schlingensief war der närrische Heilige und geniale Wüterich der deutschen Kulturszene. Er ist 2010 im Alter von 50 Jahren an Krebs gestorben. Die Filmemacherin Bettina Böhler hat zum zehnten Todestag einen Dokumentarfilm produziert: „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“. In das Schweigen hinein sagt dort Schlingensief, dass es ihm darum gehe, „in der übertriebenen Situation mehr Wahrheit zu finden“.
Die Kollegin Anke Dürr vom Spiegel fragt, welche Wahrheit der Theater- und Filmregisseur Schlingensief hinter den Mund-Nasen-Schutz-Masken der Corona-Zeit entdeckt hätte? Wie sähe wohl, überlegt sie, seine Kunstaktion zur Corona-Pandemie aus? Was hätte Schlingensief provozierend übertrieben, um „mehr Wahrheit zu finden“: die Schutzmaßnahmen oder die Rebellion gegen sie? Und welche Wahrheit hätte er in der Übertreibung entdeckt?
Was ist Wahrheit? Das ist eine Urfrage, die nicht erst in der Corona-Krise virulent geworden ist – aber dort wird sie immer wieder gestellt. Der Graben zwischen Befürwortern, Kritikern und Verweigerern der Anti-Corona-Maßnahmen zieht sich tief durch die Familien. Und jeder redet von Wahrheit.
Was ist Wahrheit? Weil die Frage eine Urfrage ist, sind wir, so schnell geht das, bei Pontius Pilatus und der Bibel – bei einer Frage, die Theologen, Journalisten und Juristen seitdem gleichermaßen umtreibt. Pilatus hat mit dieser Frage auf die Auskunft von Jesus reagiert, dass er in die Welt gekommen sei, um „Zeugnis für die Wahrheit“ abzulegen. Pilatus sagt darauf: „Was ist Wahrheit?“ – und wendet sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten.
Wahrheit ist ein Beziehungsbegriff
Was klingt hier an? Ein müder oder ein spöttischer Skeptizismus? Desinteresse?
Abgeklärtheit? Zynismus? In diesem Dialog treffen zwei Verständnisse von Wahrheit aufeinander. Das griechische Verständnis der „Aletheia“ (von lanthano, verbergen), ist „das Unverborgene“. Das biblische Verständnis dagegen rührt aus einer ganz anderen Vorstellung: Wahrheit ist im Hebräischen „emeth“. Man kann das Wort nicht einfach mit Wahrheit übersetzen, weil es zur Gruppe der Wörter gehört, die das Begriffsfeld Vertrauen und Treue beschreiben. Es bedeutet Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Vertrauenswürdigkeit. Es ist ein Beziehungsbegriff.
„Zeuge der Wahrheit“ sein – das erwartet die Gesellschaft von den Medien, von den Journalisten. Erwartet wird hier zuallererst, dass sie für „Aletheia“ sorgen, dass sie das Verborgene aufdecken, dass sie den Teppich wegziehen, unter den Skandalöses gekehrt worden ist. Der Journalismus soll dubiose Waffengeschäfte enthüllen, er soll aufdecken, wo Reiche und Mächtige ihr Geld verstecken, um Steuern zu sparen, er soll politische Lüge und Korruption aufspüren. Die Wahrheit soll ans Licht. Als zum Beispiel, die Panama-Papers veröffentlicht wurden, war das so eine Licht- und Sternstunde.
Diese Aufdeckungsarbeit aber ist es nicht allein. Aufdeckung geschieht nicht um der Erregung willen, sondern um der Treue zu Demokratie und Rechtsstaat willen. Die journalistische Wahrheitssuche muss mit Neugier, Urteilskraft und Integrität betrieben werden, sie muss in Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Vertrauen eingebettet sein. Wie verhält es sich damit in der journalistischen Begleitung und Behandlung der Corona-Krise? Der Eichstätter Journalistikprofessor Klaus Meier meint: „Zumindest Teile des Journalismus sind im anhaltenden Rausch hoher Nutzungszahlen auf dem Weg vom Früh- zum Dauerwarnsystem“. Dies könnte sich für die demokratische Gesellschaft noch als problematisch erweisen.
Journalismus deckt Geheimnisse auf, Theologie hütet sie
Die Wahrheit soll ans Licht – aber wenn der Journalismus bei der Aufdeckung stehen bleibt, macht er nur die halbe Arbeit. Die Aufdeckung von Skandalen hat oft Krisen zur Folge: Regierungskrisen, Staatskrisen, die Krise einer Bank, die Krisen eines Unternehmens. Denken wir an die diversen Parteispendenskandale, denken wir an Korruptionsskandale. Aber nicht die Krise ist gefährlich, gefährlich ist das Versagen bei ihrer Aufarbeitung und Bewältigung.
Die Aufdeckung von Skandalen ist erst die halbe Arbeit. Guter Journalismus geht daher über das Aufdecken hinaus. Er ist Moderator und Motor für Veränderungen, die die aufgedeckten Missstände abstellen.
Die Theologie ist, anders als der Journalismus, kein investigatives Gewerbe. Die Theologie hütet das „Geheimnis des Glaubens“, das Mysterium. Journalismus dagegen deckt Geheimnisse und Mysteriöses auf.
Aber sowohl das Hüten des Geheimnisses als Aufgabe der Theologie, als auch das Aufdecken des Versteckten als Aufgabe des Journalismus beschreibt die jeweiligen Aufgaben allenfalls zur Hälfte. Wenn im Journalismus nur aufgedeckt wird um des Aufdeckens willen, ist die Aufdeckung Selbstbefriedigung. Und wenn sich Theologie im Lobpreis des geheimnisvoll Geheimen erschöpft, wenn sie über das „pange linqua gloriosi“ nicht hinausreicht, kann auch Religion zur Selbstbefriedigung werden. Sie muss mehr sein als das Raunen der Riten. Sie muss auch Prophetie sein.
Es geht um Haltung
In der Theologie und im Journalismus geht es um Konsequenzen. Und um diese Konsequenzen zu ziehen, braucht man eine Haltung, also ein Verständnis davon, was den Menschen ausmacht, was die Gesellschaft zusammenhält. Die Propheten des Alten Testaments – sie wären heute wunderbare Journalisten. Theologie braucht Haltung. Journalismus auch. Theologie ist nicht das Handwerk, über Missstände Tünche zu schmieren. Journalismus auch nicht.
Maßstab für Haltung ist jeweils der Gegenstand, dem sich Theologie und Journalismus verdanken. Für die Theologie ist das die Bibel beziehungsweise das Wort Gottes als Wort der Befreiung; für die Journalisten sind das die Grundrechte der Verfassung. Bibel und Verfassung sind nicht an sich schon die Wahrheit.
Wahrheit ist immer eine Sache der Auslegung. Wahr ist, was Recht schafft und die Menschen befreit. Die Bibel steht im Zweifel auf Seiten der Schwachen, das Grundgesetz auch. Das haben Bibel und Verfassung gemeinsam. Und das hat Folgen für die Theologen, das hat Folgen für die Journalisten. Es geht auch an das Eingemachte von Demokratie und Sozialstaat. Der Sozialstaat soll dafür sorgen, dass der Bürger sein kann, dass sich die Menschen, unabhängig von der Größe des Bankkontos, auf Augenhöhe begegnen können. Wenn Journalisten dies einfordern, sind sie die Theologen der Demokratie.
Heribert Prantl
Prof. Dr. jur. Dr. theol. h.c. Heribert Prantl war 25 Jahre lang Leiter der Ressorts Innenpolitik und Meinung der Süddeutschen Zeitung sowie Mitglied der Chefredaktion. Heute ist er Autor und Kolumnist der Zeitung.
Bilder: BullRun AdobeStock (Journalist); Jürgen Bauer (Heribert Prantl); Josef Eberhard (Bibel und Grundgesetz).
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