Hunger tut weh
Wissen die Menschen der Wegwerf-Gesellschaft noch zu schätzen, was sie essen, und was sie kaufen können? Wir dürfen dabei auch den Vergleich mit anderen Ländern oder früheren Generationen wagen
Die kleine Enkeltochter schreit wie am Spieß, wenn sich die Verabreichung ihres Fläschchens um einige Minuten verzögert. Die nur unmerklich verschobene Stillung ihres Hungers scheint das Baby in allergrößte Not zu stürzen. Hunger tut weh vor allem, wenn man erst wenige Monate auf der Welt ist, und noch keine Ahnung hat, dass Mama oder Papa, aber mindestens einer von beiden, jeden Tag dafür sorgt, dass die Kleine mit Sicherheit satt wird. Ein satter Säugling dagegen ist ein zutiefst friedvolles, gut gelauntes Menschenkind.
Bekanntlich war es nicht immer selbstverständlich, dass jeder jeden Tag wusste, womit er seinen und seiner Lieben Hunger stillen konnte. Wer Zeiten in seiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, als die Menschen in den zerbombten Städten um Essen bettelten, das in den Kantinen der Besatzungssoldaten übriggeblieben war, weiß, dass ungestillter Hunger einem jeglichen Stolz rauben kann. Das ist lange her, aber bei einstmals Betroffenen noch gut erinnerbar.
Die Hab-Sucht ist tief verwurzelt
Heutige Zeiten dagegen kennen oft wenig Hemmungen wegzuwerfen, was noch gut und gern verwendbar wäre. Entspricht etwas nicht unserer Vorstellung von Wuchs und Geschmack, dann weg damit! Nicht ganz ohne Grund heißen wir ja auch „Wegwerfgesellschaft“. Viele Mitmenschen sind mittlerweile übersättigt. Wir wären doch nicht ehrlich, wollten wir leugnen, dass das Habenwollen (bis hin zur Hab-Sucht) nicht tief in unserer Natur verwurzelt ist; daher wird sehr werbewirksam dafür gesorgt, dass Gewünschtes jederzeit verfügbar ist und problemlos erhältlich gemacht wird.
Als ich das häufige Gemaule meiner Kinder über mein gekochtes Mittagessen satthatte, weil jeder etwas anderes daran nicht mochte und zurückgehen ließ, fiel mir ein lebensgroßes Poster in die Hände. Auf dem guckten Kinder aus einem Flüchtlingslager mit großen hungrigen Augen in die Kamera. Dieses, ein ganzes Türblatt füllende Plakat, habe ich wortlos an die Innenseite unserer Esszimmertür geklebt, so dass der Eindruck entstand, die Kinder schauten geradewegs auf unseren Tisch und uns begierig beim Essen zu. Meine Aktion hat ihre Wirkung seinerzeit nicht verfehlt.
Was wir uns einverleiben, wird einerseits überaus kritisch und andererseits bedenkenlos ausgewählt; da sind Äpfel aus Neuseeland, Kartoffeln aus Ägypten, oder Birnen aus Chile keine Frage; auch Erdbeeren aus Spanien im Dezember nicht. Ihre Transporte um die halbe Welt und die damit verbundene Umweltbelastung berührt nur einen Bruchteil von uns.
Manchmal kommt es mir so vor, als ob manche Bedürfnisbefriedigung symbolisch für eine ganz andere Art von Hunger steht: für eine Sehnsucht nach der Weite der Welt, dem Geschmack fremder Länder, oder der Erfüllung eines vergeblichen Verlangens nach grenzenloser Freiheit. Unersättlicher Erlebnishunger, der aufgeschoben werden muss, oder vielleicht überhaupt nie gestillt werden kann, spielt dabei sicher keine unwesentliche Rolle.
Viele Facetten menschlichen Verlangens
Das menschliche Verlangen hat viele Facetten, wir leben schließlich nicht „vom Brot allein“, sondern haben noch jede Menge anderer Bedürfnisse. Ob man sich dabei satt, übersättigt oder lebenssatt vorkommt, ist ausschließlich Sache eines jeden, und wie weit er sich auf Beschränkung und Verzicht versteht. Nur jeder selbst kann sein eigenes individuelles Maß festlegen. Niemand kann einem vorschreiben, mehr oder weniger zu essen oder zu konsumieren, als einem gut tut. Jeder ist sein eigenes Gesetz, von dem er sich ein erfülltes Leben verspricht.
Ein bedenklicher Charakterzug ist das selbstsüchtige Verlangen nach Macht und Unterwerfung anderer; wo aber gehungert wird nach Verstehen und Verstandenwerden, nach Beachtung und Respekt, nach Liebe und Zärtlichkeit, Anerkennung und Wertschätzung, nach Wahrhaftigkeit und Zusammenhalt, nach Frieden und Gerechtigkeit, sollte man versuchen, zur Linderung dieser Not, wenn schon nicht zu ihrer Abschaffung, beizutragen.
Der Hunger nach spiritueller Nahrung dringt nicht immer ins Bewusstsein, weil die Seele nicht knurrt wie ein leerer Magen; sie schlägt erst Alarm, wenn uns das Verlangen nach allem anderen längst vergangen ist. So lange wir uns jedoch mit oberflächlichen Ersatzbefriedigungen zufriedengeben und vorwiegend fremdbestimmen lassen, erfüllt das auf Dauer niemanden. Die Seele bedarf einer Nahrung, die „nicht von dieser Welt“ ist und nachhaltiger sättigt als das tägliche Brot für die leibliche Not: Man muss auch mit dem Heiligen rechnen, ohne das Erfüllung im Leben nur eine Illusion bleibt.
Herma Brandenburger
Foto: Nyana Stoica | Unsplash
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