Das Mädchen im Spiegel
Aufbrechen und auf Entdeckungsreise gehen, das ist nicht nur ein geographisches Erlebnis. Auch im Inneren der Seele gibt es Neues zu erkunden, und es gibt das Wagnis, aufzubrechen aus alten Mustern. Unterwegs zu mir selbst.
In der Wohnküche meiner Eltern gab es einen Tisch mit einer Schublade, in der meine Mutter verschiedene Ondulier-Eisen aufbewahrte, mit denen sie sich und mir zu Feiertagen Locken in die Haare brannte. Ich mochte das nicht, weil sie mich damit fast jedes Mal versehentlich verbrannte, wenn ich herumzappelte. Viel lieber mochte ich den Handspiegel, in dem ich mich anschauen konnte. Sehr zum Ärgernis meiner Mutter, die stets aufgebracht herbeieilte und mir streng gebot, den Spiegel sofort an seinen Platz zurückzulegen, und die Schublade unverzüglich zu schließen.
Der Grund ihres Befehls: Der leibhaftige Teufel steht hinter einem Mädchen, sobald es sich mit seinem Spiegelbild beschäftigt, was mit Sicherheit zu einem schlimmen Ende führt. Anfangs noch gläubig gehorchend, vor allem auch erschrocken über die Tatsache, dass es dem höllischen Bösewicht offenbar problemlos gelang, durch Wände hindurch in unsere Küche zu gelangen.
Den Teufel auf frischer Tat ertappen
Wild entschlossen, ihn zu erwischen, nutzte ich jede Gelegenheit bei Abwesenheit meiner Mutter, durch blitzschnelles Umdrehen den Teufel hinter mir sehen zu können. Doch so sehr ich es auch zu erstaunlicher Wendigkeit schaffte, den Teufel einmal auf frischer Tat zu erwischen, gelang mir nicht.
Dazu muss ich erwähnen, dass es in unserem „gut katholischen“ Haushalt außer einem weiteren Spiegel überm Waschbecken (der für mich damals noch zu hoch angebracht war) keine weiteren Spiegel gab, die einem Auskunft über Aussehen und Wirkung der eigenen Person hätte geben können. So hatte ich kaum Gelegenheit, mich selbst kennenzulernen.
Mit dem Heranwachsen kritischer werdend, verlor ich den Glauben an mütterliche Warnungen ebenso wie das Interesse an der Wirkmacht des Höllenherrschers. Eine Reihe von Jahren später, als der Kauf eines neuen Wintermantels für mich anstand, saß ich wartend im Laden vor einem großen Spiegel, als ich darin die Gestalt eines Mädchens, etwa in meinem Alter entdeckte. Gebannt betrachtete ich seine Bewegungen und Blicke, zumal es auch genau denselben gemusterten Schal um den Hals trug wie ich.
Und als ich an der Reihe war, bedient zu werden, erhob das Mädchen sich ebenfalls, und ich merkte erschrocken, dass ich nichts anderes als mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte. Ein wenig unkonzentriert probierte ich ein bis zwei Mantelmodelle und verließ den Laden schließlich in Begleitung meiner Eltern mit einem Neuerwerb und ein wenig irritiert.
Was vor einem dreiviertel Jahrhundert gängige Praxis war, wäre heute undenkbar. Weder käme man auf die Idee, Kindern Spiegel zu verbieten (höchstens wegen gefährlicher Bruchgefahr), noch sähe man darin eine Gefahr für zu früh einsetzende Gefallsucht und Eitelkeit; und über einen Teufel im Rücken dessen, der einen Blick auf sich selbst riskiert, hätte man nur noch ein müdes Lächeln. Zeiten ändern sich. Zum Glück.
Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich gestehe, dass mich mein Leben lang die Frage beschäftigt hat: Wer bin ich eigentlich, und wer soll ich in Wirklichkeit sein? So mangelte es nie an Menschen, die meinten zu wissen, mit welchen Korrekturvorschlägen sie für mich aufwarten müssten. Nicht jeder Rat war für mich annehmbar, und manchen habe ich sogleich in die Wüste geschickt, kaum dass er mir angetragen worden war; auch wenn mir oft das Prädikat angehängt wurde, kompliziert zu sein. Noch ist mir die verzweifelte Klage meiner Mutter in Erinnerung: „Die macht, was sie will!“
Ganz davon abgesehen ist es ohnehin unmöglich, sich irgendwelchen Menschen zuliebe dauerhaft zu ändern bzw. anzupassen. Tat ich es dennoch, bekam ich prompt psychosomatische Probleme.
Die Angst vor Veränderungen
Der Konventionen wegen haben sich Frauen meiner Generation zum Teil bis heute mit der Rolle der Untergebenen, Unterdrückten und vermeintlich Unfähigen abgefunden. Was sich alles nicht schickte für eine Frau, regelten ausschließlich Männer, die sich durch ihre Vormachtstellung damit willfährige Erfüllungsgehilfinnen erschufen. Hielten sie sich etwa selbst für einen göttlichen Schöpfer? Ich kenne Frauen, nicht nur ältere, die – bis auf wenige Ausnahmen – gehorsam erfüllen, was man von ihnen erwartet. Selbst für kleine Schritte fehlt vielen der Mut, und ihre Angst vor unerlaubten Veränderungen ist riesengroß.
Mit der Abfuhr durch eine langjährige Freundin, die mir vor Jahren eine Reihe meiner gemalten Ölbilder abgekauft und in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatte, musste ich mich vor einiger Zeit abfinden. Häufiger in Debatten über Glaubensdinge verwickelt, fanden wir irgendwann zu keinem gemeinsamen Nenner mehr. Nach längerer Pause besuchte ich sie mal wieder und stellte fest, dass sie alle Bilder von mir abgenommen hatte. Auf meine Frage, weshalb, sagte sie: „Du bist ja nicht mehr die, die du früher warst.“ Meine Frage: „Was hast du gegen Weiterentwicklung?“, überhörte sie.
Das Leben ist ein Minenfeld. Wenn eine hochgeht, ist das oft mit Schmerz und Veränderung verbunden, bietet aber auch Chancen für Neues. Was die Selbstfindung angeht: Seiner Vollendung geht man nur in kleinen Schritten entgegen. Im Grunde ist man bis zuletzt auf der Suche nach einem Ankerplatz, wo man bleiben kann. Thomas von Aquin soll gesagt haben: „Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.“
Herma Brandenburger
Bild: AdobeStock
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