Brauchen wir den „Ablass“?
Seit den Tagen der Apostel versucht die Kirche, sich bei Fehlverhalten von Mitgliedern durch Strafen zu schützen. Dies zeigt in unserer säkularisierten Gesellschaft allerdings immer weniger Wirkung. Dennoch kann der Ablass im „Heiligen Jahr“ eine gute Gelegenheit für die Kirche sein, Barmherzigkeit zu gewähren und erleben zu lassen.
„Seht, wie sie einander lieben!“ Tertullian, der christliche Schriftsteller aus Karthago (ca. 160 – 225 n. Chr.) verweist stolz darauf, dass die Christen durch ihren geschwisterlichen Umgang miteinander in der damaligen Gesellschaft aufgefallen sind. Aber auf Dauer blieb nicht verborgen, dass es auch in der Kirche Sünder gibt. Um den Vorwurf der Scheinheiligkeit abzuwehren, griff die Kirche zu der weitverbreiteten Taktik des Rigorismus: Will man den eigenen Heiligenschein retten, so muss man sich entschieden von den Fehlern und den Sündern distanzieren, am besten ergänzt durch Disziplinarmaßnahmen. Dafür eignen sich zum Beispiel. die Suspendierung von bestimmten Ämtern, die Verweigerung der Sakramente oder der Ausschluss von der Gemeinschaft. Nach einer Zeit der „Bewährung“ kann eventuell die Strafe wieder aufgehoben werden. Zeichen einer glaubhaften Umkehr können Werke der Nächstenliebe sein, Opfer, ein Büßerleben oder Wallfahrten. Besonderes Gewicht kam lange Zeit einer Wallfahrt ins „Heilige Land“ zu.
Dieses Verfahren ist durchaus rechtens, denn die Autorität, die eine Strafe verhängt, kann auch wieder davon befreien. In der Kirche nennt man eine solche Begnadigung „Ablass“, „Nachlass“ oder „Erlass“. Festzuhalten ist aber: Es handelt sich um eine legitime Befreiung von „zeitlichen (kirchlichen) Sündenstrafen“, nicht um Vergebung von Sünden.
Der Ablass im Zwielicht
Papst Bonifatius VIII. rief im Jahr 1300 in Anlehnung an das alttestamentliche „Jobeljahr“ (Lev 25) ein „Heiliges Jahr“ aus. In ihm wurde ein „vollkommener Ablass“ gewährt, wie ihn „Heilig-Land-Pilger“ erhielten. Dies war eine Art kirchliche Generalamnestie für jene, die aus irgendeinem Grund mit einer kirchlichen Strafe belegt waren. Das hatte eine heilende und befreiende Wirkung. Da wurden die Ausgestoßenen wieder in der Gemeinschaft der Kirche angenommen.
Zunächst war das „Heilige Jahr“ als Jahrhundertereignis gedacht, doch seit 1470 wird es jeweils im Abstand von 25 Jahren begangen. Manchmal wird sogar noch ein „außerordentliches Heiliges Jahr“ hinzugefügt. Wie ein Schatten legt sich aber über das „Heilige Jahr“ bis in die Gegenwart hinein die weitverbreitete Vorstellung, dass die Kirche beim damit verbundenen Ablass nicht nur über die von ihr verhängten Strafen befindet, sondern auch über das jenseitige Seelenheil. Im Zusammenhang mit dem Bau der Peterskirche in Rom (1506 -1626) wurde beim Erwerb von finanziellen „Bausteinen“ sogar die Befreiung von ewigen Sündenstrafen versprochen. Als Begründung diente die Vorstellung, dass der Kirche dafür ein geheimer Schatz an Gnaden („Taurus“) zur Verfügung stehe, angesammelt durch gute Werke der Kirchengemeinschaft. Dies steigerte die klerikale Macht, provozierte aber zugleich den Widerspruch der Reformatoren mit den bekannten Folgen.
2025 feiert die Kirche wieder ein „Heiliges Jahr“. Und erneut gibt es den Ablass, auch wenn er kein großes Thema mehr ist. Papst Franziskus setzte einen anderen Akzent. Er wünschte sich ein „Heiliges Jahr“, das Hoffnungsperspektiven für unsere Zeit eröffnet. Als „Pilger der Hoffnung“ sollen wir unser Leben gestalten, und zwar so, dass diese Hoffnung erlebt werden kann.
Damals wie heute
In Erinnerung an Jesaja 61f hat auch Jesus ein „Gnadenjahr des Herrn“ ausgerufen. Wichtig ist ihm, dass die verkündete Befreiung zur Wirklichkeit wird. Im Blick auf sein eigenes Tun sagt Jesus: „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt, das ihr eben gehört habt.“ (Lk 4, 21). Sicher ist Jesus damals gefragt worden: „Und wo, bitte schön, hat sich dies erfüllt?“ Seine Antwort: „Durch mich. Das ist nachprüfbar. Ich bin dazu gesalbt und gesandt.“ Wo Jesus auftrat, kamen sich manche in seiner Nähe wie neugeboren vor, fanden wieder zur Selbstachtung. Zuweilen zeigte sich sogar Heilung von körperlichen Gebrechen. Die Menschen spürten: Jetzt ist eine Heilszeit angebrochen, ein Gnadenjahr, ein Heiliges Jahr.
Zum Tisch einladen
Vergebung und Heilung durch Gott ereignen sich immer wieder neu, auch heute. Wir dürfen sogar selbst mitwirken. Auch solche, die noch abseitsstehen, die sich ausgegrenzt haben oder ausgegrenzt wurden, sollen Befreiung erfahren.
In unserer säkularisierten Welt wissen viele gar nicht mehr, dass sie mit einer kirchlichen Strafe belegt sind. Es interessiert sie meist auch nicht oder sie haben die Hoffnung auf eine Versöhnung aufgegeben. Es gibt aber auch etliche, die unter dieser Bestrafung leiden. Manche „Vergehen“ werden heute längst in einem milderen Licht gesehen. Wie sehr hat sich zum Beispiel die Beurteilung einer „ungültigen Ehe“ oder der „Konfessionsverschiedenheit“ geändert? Zum Kreis der Bestraften gehören aber auch – freilich in unterschiedlicher Schwere – ganze getrennte Kirchen oder Gruppen; Priester, die ihr Amt aufgeben; Theologen mit abweichender Lehre oder alle, die an der Tötung von ungeborenen Kindern beteiligt waren. Das „Heilige Jahr“ könnte eine Chance für die Hirten der Kirche sein, öffentlich vernehmbar die Annullierung bestehender Strafen anzubieten. Die Kirche ist doch auch selbst – heute mehr denn je – darauf angewiesen, dass ihr vergeben wird. Wenn Befreiung nicht konkret erfahren werden kann, dann bleiben noch so erhabene Feiern und Dokumente nur ein hohles Ritual.
Für alle Christen gilt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt.“ Bei Taufe und Firmung wurden wir gesalbt, damit die Kunde des barmherzigen Gottes in unserem Land nicht verstummt. Das kann geschehen, wenn Gemeinden Menschen, die sich von Gott oder der Kirche beiseitegeschoben fühlen, an ihren Tisch einladen – an den Tisch des Herrn. Aber Gleiches gilt für den persönlichen Bereich. Wie befreiend ist es, wenn wir Menschen wieder als Schwestern oder Brüder begegnen können, zu denen es lange eine „Kontaktsperre“ gab? Dafür bedarf es keiner eigenen Erlaubnis. Die ist durch die Weisung des Herrn gegeben. Mit Jesus, dem Christus, ist immer Gnadenzeit; die Jahreszahl spielt dabei keine Rolle.
P. Peter Hinsen
seit 1967 Pallottiner, Autor von zahlreichen Büchern und Zeitschriften (seit 1968 in „KA“ bzw. „das Zeichen“), engagiert in der Seelsorge, Erwachsenenbildung und Priesterausbildung. Heute lebt er in Immenstaad am Bodensee.
Bild: Jonathan Schöps/AdobeStock
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