Ist das erlaubt?
Das Neue Testament berichtet, dass Jesus wiederholt das Gesetz des Mose übertrat oder ihm widersprach. Das brachte ihm nicht nur Ärger, sondern letztlich sogar das Todesurteil ein. Viele Menschen haben ihm aber genau wegen dieser „Freiheit vom Gesetz“ ihre Sympathie geschenkt. Doch darf Jesus sich über das Gesetz stellen? Und dürfen das andere auch?
Immer wieder erregte Jesus Anstoß mit seiner Auslegung einzelner Gebote wie etwa zum Sabbat, bei Speise- und Reinigungsvorschriften, beim Eherecht oder bei Gesundheitsmaßnahmen, selbst bei seinem heilenden Wirken. Exemplarisch sei hier an eine Begebenheit erinnert, von der die Evangelisten (Mk 1,40-45; Mt 8,2-4; Lk 5,12-16) erzählen.
„Wenn du willst …“
Als Jesus von Nazaret nach seiner Taufe durch Galiläa zog, verbreitete sich in kürzester Zeit die Kunde, dass er eine „neue Lehre“ verkünde und von allerlei lebensfeindlichen Kräften (Dämonen) befreie. Das ermutigt einen Aussätzigen in erforderlichem Abstand Jesus kniend anzuflehen: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen!“ Wieso sollte Jesus nicht wollen? Weil der Kontakt mit einem Aussätzigen nach dem mosaischen Gesetz strengstens verboten war. Wie rigoros eine Gesellschaft bei einer unberechenbaren Ansteckungsgefahr reagieren kann, zeigte sich in der Corona-Pandemie.
Jesus schmeißt die traditionellen Vorschriften nicht einfach auf den Müll. Er weist den Aussätzigen gemäß dem tradierten Gesetz an: „Geh, zeig dich dem Priester“. Das Gesetz will das Leben des Volkes schützen. Deswegen wird es als Anordnung Gottes verstanden (vgl. Mk 3,4 par). Einen Aussätzigen zu berühren und dann wieder Gesunden zu begegnen ist geradezu ein Tötungsdelikt. Dennoch entscheidet Jesus: „Ich will!“, berührt den Kranken sogar und stellt alle Bedenken zurück. Das ist seine ganz persönliche Entscheidung. In dem, was sein Herz, sein Gewissen sagt, sieht er den Willen seines himmlischen Vaters. Dem folgt er ohne Abstriche, aber nicht immer den Geboten des Mose.
Jesus wurde gefragt: „Wer gibt dir das Recht, das Gesetz des Mose nach deinem Gutdünken zu interpretieren?“ Er gab keine Antwort (vgl. Mk 11,33). Sie wäre wohl auch nicht verstanden worden. Später lieferte sie der Hauptmann beim Kreuzestod Jesu: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39).
Die frühen christlichen Gemeinden hatten wohl kein Problem damit, dass Jesus zum Beispiel „Herr über den Sabbat“ (Mk 2,28 par) ist oder über Reinheitsvorschriften bei Speisen (vgl. Mk 7,19). Schließlich unterstreicht das Johannesevangelium die engste Vertrautheit Jesu mit dem himmlischen Vater: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30).
Aber ist ein solch souveräner Umgang mit dem Gesetz auch anderen erlaubt? Etwa uns? Der Neutestamentler G. Lohfink antwortet: Alle, die Jesu nachfolgen und sich als seine Boten verstehen, „handeln nicht nur in seinem Auftrag, sondern sie handeln an seiner Stelle, sie vergegenwärtigen ihn. Man sieht das daran, dass sie all das tun dürfen und sogar tun müssen, was Jesus tut“.
Zudem muss man zugeben: Auch das mosaische Gesetz ist ein menschliches Gesetz, entstanden in einer bestimmten Situation. Es bezieht seine Autorität zwar aus dem Willen, im Einklang mit dem Schöpfer das Leben zu schützen. Doch dabei sind die jeweiligen Umstände und der aktuelle Wissensstand zu beachten. Wer Gebräuche und Traditionen umstürzen will, nur weil sie aus früheren Zeiten stammen, ist auch auf dem Holzweg. Manche blinde Eiferer müssen das bedenken. Das gilt für alle Lebensbereiche.
Mit Herz, Verstand und Kraft!
Die Kirche als „ecclesia semper reformanda“ ist da nicht ausgenommen. Vor mehr als 50 Jahren wurden auf der Würzburger Synode (1971-75) der Bistümer der damaligen Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Reformen angestoßen, doch vieles ist ins Stocken geraten und bewegt im sogenannten synodalen Prozess immer noch die Gemüter. Der Ruf verstummt nicht: „Wenn Du willst, kann du mir helfen!“
Gleiches gilt für die Politik. Wenn Probleme zu lange verschleppt oder nicht ernstgenommen werden, drängt die Not die Verantwortlichen wie auch die Bürgerinnen und Bürger zu vielfachen Zeitenwenden. Wichtig ist eine möglichst umfassende Reflexion, um mit Herz und Verstand kraftvoll Konsequenzen ziehen zu können, die dem Leben aller dienen. Welcher Einsatz für Natur und Frieden ist jetzt richtig? Willst du dich an einer Demo oder einem Streik beteiligen oder am Kirchenasyl? Welcher Partei gibst du deine Stimme? Mal fällt die Entscheidung so, mal anders aus. Auch persönliche Unterschiede kann es da geben.
Der Pallottinerpater Franz Reinisch stand angesichts der Gräuel der Nazis vor der Frage: Soll ich dem „Führer“ folgen, wie das Gesetz es befiehlt? Er orientierte sich an der Weisung: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Niemand ist ihm beigestanden, kein Bischof und kein Mitbruder. Inzwischen sehen wir vieles klarer und sagen: er hat richtig entschieden.
Zur Legitimation des Gewissensspruches gehört der Wille, das Wohl aller zu achten, selbst wenn man dabei Nachteile erleidet. Zu allen Zeiten fanden Christen das Wort Jesu bestätigt: „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen!“ (Joh 15,20). Dennoch bleibt das christliche Grundgesetz bestehen: Liebe Gott mit „ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft“ (vgl. Mk 12,33 par). Bei einer solchen Liebe erübrigt sich die Frage, ob man das darf!
P. Peter Hinsen
Bild: Pallottiner
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