Zur Freiheit befreien
Freiheit. Ein Schwergewicht unter den Begriffen. Lange tönte von den Kanzeln der Kirchen, in Klassenzimmern, Sportvereinen und völkischen Kreisen der Grundakkord des „Dreizehn Linden-Dichters“ Friedrich Wilhelm Weber: „Freiheit ist der Zweck des Zwanges! Wie man eine Rebe bindet, dass sie, statt im Staub zu kriechen, froh sich in die Lüfte windet“ (1878). Diese „Spalierobst-Pädagogik“ forderte in Familie und Schule den widerspruchslosen Gehorsam, rechtfertigte sogar drakonische Strafmaßnahmen. Zur höhnisch-sadistischen Fratze mutierte sie schließlich an den Eingangstoren der KZ‘s der Nazis: „Arbeit macht frei!“
Die Erziehung durch die Eltern …
Dass den Eltern in der Regel die „Erziehungsberechtigung“ für ihr Kind zukommt, hat einen guten Grund. Es wird als natürliche Forderung der Fürsorge und Liebe gesehen. Als eng damit verbunden gilt meist ein gewisses Züchtigungsrecht. Es kann nur nach Nachweis eines erheblichen körperlichen oder seelischen Schadens entzogen werden.
Diese Sicht der elterlichen Erziehung diente auch als archaische Folie, die auf andere Autoritäten übertragen wurde. So sah sich der König berechtigt, sein Volk zu „züchtigen“ (1 Kön 12,11-14; 2 Chr 10,11-14). Das heute noch gängige Strafrecht behauptet, „im Namen des Volkes“ durch „Vergeltung“ und „Sühne“ die öffentliche Ordnung und das Gemeinwohl zu schützen. Trotzdem werden immer wieder noch härtere Strafen gefordert, um vor Verbrechen abzuschrecken.
Und wer kennt nicht den Spruch: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ Wer vor Feierabend die Werkstatt aufzuräumen hat, entzieht sich jeder Diskussion. Stets sind Gehorsam und Unterordnung angesagt. Der Schrei von Drangsalierten lässt aber erschrecken: „Wenn ich mal so stark bin wie du jetzt, zahle ich dir alles heim.“
…und durch Gott!
Öfter wird auch Gott als derjenige gesehen, der erzieht und züchtigt. Galt es nicht geradezu als ein Zeichen der Erwählung und der Liebe, von Gott zurechtgewiesen zu werden (Spr 3,11.12)? Mitfühlend wurde vermutet, dass Gott eben manchmal nur mit Strafen das Leben derer schützen könne, die er liebt. Zudem könne nur Gott unfehlbar wissen, was zu unserem Heile ist.
So lässt menschliches Denken ihn sprechen: „Ich werde für ihn (meinen Sohn) Vater sein und er wird für mich Sohn sein. Wenn er sich verfehlt, werde ich ihn nach Menschenart mit Ruten und mit Schlägen züchtigen“ (2 Sam 7,14). Wohlgemerkt, nach Menschenart, – nicht nach Gottesart!
Auch der frühchristliche Verfasser des Hebräerbriefes folgt diesem Denken: „Verachte nicht die Erziehung des Herrn und verzage nicht, wenn er dich zurechtweist! Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet! Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?… Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Leid; später aber gewährt sie denen, die durch sie geschult worden sind, Gerechtigkeit als Frucht des Friedens“ (Hebr 12,5-7.11).
Dieses Wort ist heute nur noch schwer zu hören. Damals sollte es Christen in schwerer Verfolgungszeit zum Durchhalten motivieren. Da wurden Erinnerungen an die Leiden Israels beim Auszug aus Ägypten oder im babylonischen Exil wach. Jedes Mal reifte das geprüfte Volk in seinem Vertrauen zu Gott. Die Antwort, dass das Leid der Erziehung des Volkes bzw. der Menschen dient, will den Glauben an die Liebe Gottes verteidigen. Das ist gut gemeint, aber die Zweifel bleiben.
Menschen durch Züchtigung zum Guten zu führen, galt auf allen Ebenen des Lebens als legitim. Aber wir dürfen uns Gott nicht wie zürnende und züchtigende Eltern vorstellen. Selbst die Bibel spricht immer wieder davon, dass Gott seinen eigenen Zorn überwindet und sich zu sich selbst bekehrt. Doch all dies ist menschliche Rede.
Immanuel Kant wird der Satz zugeschrieben: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Aber wer zieht die Grenzen? Wieviel an Bindung und Zwang der Freiheit dienlich ist, darüber entscheiden oft die Machtverhältnisse.
Zeitloses Thema
Seit der Aufklärungszeit prüfen Psychologen, Pädagogen und auch Seelsorger Nutzen und Schaden von Bindungen in der Erziehung. Nicht zu vergessen ist die Idee der „antiautoritären Erziehung“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im christlichen Kontext wird zunehmend ein dialogischer Prozess favorisiert. Er beachtet die in Erfahrung und Wissen gründende Ungleichheit zwischen Eltern/Erziehern und Kindern/Schülern, aber auch die Gleichheit aller als Kinder Gottes. Die Bindung zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern sollte der natürlichen Entwicklung entsprechen. Eine kurze Leine mag zunächst Geborgenheit und Sicherheit schenken, führt aber auch zu Unselbständigkeit, belastender Abhängigkeit, oder – wie S. Freud formuliert (1923) – zur Diktatur des „Über-Ichs“. Die lange Leine dagegen ermöglicht Experimente, gefahrvolle Gratwanderungen zwischen Erfolg und Absturz, ermutigt zum Risiko und lässt Mündigkeit reifen.
P. Peter Hinsen
Bild: Adobe Stock
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