Spiegel der Seele
Manchmal nehme ich das Jugendbildnis meiner Großmutter Maria in die Hand und betrachte es intensiv. Das Schwarzweiß-Foto entstand 1920, vor ihrer Hochzeit. Es steht lange schon auf meinem Schreibtisch.
Maria lächelt verträumt. Genauso lebt sie fort in meinen Erinnerungen: Sanft. Warmherzig. Einfühlsam. Als ich noch nicht zur Schule ging, durfte ich oft mehrere Tage bei unseren Großeltern in Ludwigshafen verbringen. Weil ich gern mit der Straßenbahn fuhr, war Oma mit mir jeden Tag unterwegs. Vor ihrer dreiflügeligen Spiegelkommode machte sie sich zurecht, und ich sah ihr dabei zu. Es dauerte ein Weilchen, bis der Hut korrekt auf der Dauerwellen-Frisur saß. Oma Maria nadelte sich eine Brosche ans Kostüm. In ihre Handtasche kam ein fein gefaltetes Spitzentaschentuch, und hinter die Ohrläppchen je ein Tropfen „Uralt Lavendel“ aus dem grünen Fläschchen mit dem goldenen Verschluss.
Halstuch. Mantel. Dann zogen wir los. Ich fand meine Oma wunderschön. Dass sie starke Schmerzen in den Füßen hatte, mein Opa todkrank war und beide weit über sechzig, davon merkte ich nichts. Im Rückblick sehe ich unsere Großeltern nie alt oder mit grauen Haaren. Aber ihre Zuneigung spüre ich bis heute.
Falten sieht man immer erst auf den zweiten Blick
Der Spiegel und eine einigermaßen geordnete Frisur sind für mich, wie damals für Oma, unverzichtbar. Das gebe ich offen zu. Lippenstift gehört auch dazu. In den wichtigen Momenten des Lebens ist es freilich unerheblich, ob jemand ein faltiges Gesicht oder die Haare frisch blondiert hat. Diese beruhigende Erfahrung hat sicher jeder gemacht. Zum schillernden Thema „Beauty“ konsultiere ich trotzdem eine Fachfrau, meine Kosmetikerin. „Schönheit kommt nur von innen“, antwortet sie spontan, ohne einen winzigen Moment des Zögerns. Sie fügt hinzu: „Das Seelenleben, positive Gedanken und eine gesunde Ernährung beeinflussen die Ausstrahlung. Falten sieht man immer erst auf den zweiten Blick“.
Sekunde für Sekunde zeichnet der Alltag Linien in unser Gesicht, und wenn ich mich selbst anschaue, vergehen manchmal zehn Jahre allein zwischen Morgen und Abend. Der kontinuierliche Verlust lieber Menschen, Enttäuschungen, Kummer und Sorgen, beschweren den Geist mehr und mehr, je älter wir werden.
„Alle Erlebnisse eines Menschen werden in seiner Seele gesammelt“, bestätigt meine franziskanische Freundin, die manchen Schicksalsschlag, auch schwere Krankheit, bewältigen musste. „Das ganze Leben, wie man denkt und fühlt, zeigt sich im Gesicht. Die Augen sind wie die offenen Fenster eines Hauses. Das Innere, alles Fühlen und Wollen, wird in den Augen und in der Mimik transparent und sichtbar“. Wir sprechen über meine Beobachtung, dass viele Schwestern im Kloster, bis ins hohe Alter, nahezu faltenfrei und irgendwie tiefenentspannt aussehen, trotz lebenslanger, schwerer Arbeit und ohne kosmetische Mittelchen.
Meine franziskanische Freundin meint, dass die intensive Kommunikation mit Gott sich in den Gesichtszügen widerspiegeln könne: „Gott hört mich. Er ist da, auch wenn ich ihn nicht sehe. Ich spreche nicht ins Leere, ich lebe nicht ins Leere. Gott hält mich in seiner Hand, egal, was passiert“.
Augen wirken wie ein Brennglas
Das Antlitz des Menschen steht im Fokus, von der Wiege bis zur Bahre. Leuchtend, ernst, nachdenklich, schmerzverzerrt, abwesend, neugierig, besorgt, finster oder heiter können Blicke sein; auch verschlossen, oberflächlich, stolz, misstrauisch, überheblich, erniedrigend, böse und kalt. Es gibt viele Selbstporträts von Künstlern. Immer wirken ihre Augen wie ein Brennglas des inneren Kosmos. Ich denke hier an die Werke von Rembrandt, van Gogh, Munch, Modersohn-Becker, Kahlo oder Dürer.
Schönheitsideale ändern sich wie die Farben und Formen der Mode. Bessere Individuen werden wir nicht durch Kosmetik oder Chirurgie. Operationen, wie die Korrektur eines schielenden Auges, können freilich das persönliche Selbstwert- und Sicherheitsgefühl stärken.
„Auf das Herz eines Menschen kommt es an und nicht auf seine Sprache oder die Gedanken in seinem Kopf“, notierte der Schriftsteller Werner Bergengruen in seiner 1950 erschienen Erzählung „Das Tempelchen“. Im Vertrauen leben mit einem Gegenüber, einem verständnisvollen Du, privat und beruflich, das bringt Geist und Körper in Balance und spiegelt sich im Gesicht. Eine schöne Seele erzeugt jene vielgepriesene, fragile, harmonische Ausstrahlung einer Person. Diese einzigartige, natürliche Attraktivität hat wärmende Kraft und ist alterslos.
Ellen Dietrich
Bild: Georg Wiehe
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