Auch aus diesem Heft:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ So steht es in der Thora. Und dann?

Der große Bruder

Ein einsames Kind aus Deutschland, ein einsamer Soldat aus der Ukraine, und ihre kurze Geschichte an einem Weihnachtsfest im Jahre 1945.

An einem Tag im Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Den Fronten oblag nun die Aufgabe, sich zu beruhigen und für Normalität zu sorgen. Und wenn noch geschossen wurde, dann nur, um Diebe zu warnen. Dies betraf insbesondere den weitläufigen Komplex des militärischen Kasernenareals, das noch als „Heereszeugamt“ aus dem Ersten Weltkrieg stammte. Bis die neuen Besitzverhältnisse geklärt waren, stellte dieses Gelände eine Fundgrube für Plünderer dar.

Ich war noch kein Schulkind, auch weil das große Schulgebäude infolge eines Bombenangriffes bis auf wenige Räume unbenutzbar war. Als einziges Kind eines älteren Ehepaares weitgehend mir selbst überlassen, war ich viel allein. Nicht nur die Großen, auch Kleine kann die Einsamkeit heimsuchen. Ich war nahezu besessen von dem Wunsch, einen großen Bruder zu haben, der für mich da ist und mir die Welt erklärt, wo es allen anderen die Sprache verschlagen hatte.

Die Erwachsenen litten alle an ihren unterschiedlichsten Kriegsverwundungen, körperlicher wie seelischer Art. Dennoch war jeder bemüht wieder etwas Normalität in die Reste einer untergegangenen Welt zu bringen, in der sich alle Gewissheiten aufgelöst hatten. Für mein Alter hatte ich schon viel zu viel für ein Kind Ungeeignetes mitbekommen, als ich gewahr wurde, dass ein sehr junger Mann mit einem Gewehr über der Schulter täglich in unserer Straße die Mauer des Militärgeländes entlang patrouillierte. Er war offenbar erfreut darüber, dass jemand die Eintönigkeit seiner Route unterbrach, als ich ihn eines Tages einfach ansprach.

Ein Soldat namens Anton

Er hieß Anton, und ich sollte Toni zu ihm sagen. Toni schien gerade mal volljährig zu sein, als die amerikanischen Besatzungssoldaten ihn als Wachmann eingestellt hatten. Gemessenen Schrittes ging er Stunde um Stunde die endlose Mauer entlang, um die Kasernen gegenüber unserem Mietshaus gegen das Eindringen Unbefugter zu kontrollieren. Mittlerweile hatten sich amerikanische Besatzungssoldaten dort einquartiert.

Sobald ich Toni auf seinem Rundgang entdeckte, ging ich mit ihm die endlose Backsteinmauer entlang, die das Gelände einfasste und an manchen Stellen notdürftig geflickte Bombeneinschläge aufwies. Bald hatten wir Vertrauen zueinander gefasst; ich, das kleine plauderfreudige Mädchen, und er, der junge Ukrainer, der, aus welchen Gründen auch immer, hier mehr gestrandet als freiwillig gelandet zu sein schien.

Hoher Himmel, endlose Weizenfelder

Bald erzählte Toni ausführlich von seiner Heimat, dem schönen, aber weit entfernten Land namens Ukraine mit seinem hohen blauen Himmel über endlosen, gelben Weizenfeldern, von dessen Existenz und Lage ich bis dahin genau so wenig wusste wie von dem Umstand, wieso ein so junger Mensch fern seiner Heimat hier als Wachmann Dienst tun musste.

Toni war ein stiller, ruhiger Mensch, und wäre ich etwas älter gewesen, wäre mir aufgefallen, dass es sich dabei um eine unterdrückte Traurigkeit handelte.

Mittlerweile Winter geworden, hielten mich auch nicht Schnee und Eis davon ab, Toni auf seinen Kontrollgängen zu begleiten. Nach jeder Schneenacht war der weiße Belag auf unserer Straße höher, und da ich keine warmen Winterstiefel besaß, hatte ich in meinen ohnehin bereits zu engen Schuhen alsbald nasse Füße und juckende Frostbeulen.

Dann kam Weihnachten. Aber ohne Tannenbaum und zu erwartende Geschenke im Nachkriegstrümmermeer. Eine ältere Frau aus der Nachbarschaft hatte aus Wollresten eine warme Mütze und Fausthandschuhe für mich gestrickt. Völlig überwältigt wollte ich Toni meinen neuen Reichtum unbedingt vorführen. Doch ganz gegen die Gewohnheit war er nirgends zu sehen.

Ziemlich irritiert lief ich die Strecke seiner Wache ab, als es bereits dämmerte. Ich rannte und rief seinen Namen in die hereinbrechende Dunkelheit. Längst war die Straße zu Ende, und ich bei einem verlassenen Bahngelände angekommen, als ich im Schein einer hohen Fabriklampe Tonis Umrisse erkannte.

Erleichtert rannte ich auf ihn zu und hielt ihm meine Schätze unter die Nase. Doch statt sich mit mir zu freuen, reagierte er ungehalten: Wie gefährlich es für ein kleines Mädchen sei, einfach auszubüxen, und wie ich jetzt in der Dunkelheit nach Hause finden wolle. Er dürfe doch seinen Posten nicht verlassen. Völlig bedröppelt hatte ich nicht mit einer Strafpredigt gerechnet. Hart nahm er mich an die Hand und geleitete mich ein Stück des Rückweges, wobei er seine vorgeschriebene Strecke verbotenerweise verließ.

Als der Anfang unserer Straße erkennbar wurde, ließ Toni mich los und ging eilig zurück. Die amerikanische Militärpolizei war für ihre drakonischen Strafen gegenüber dem Fehlverhalten ihrer Leute bekannt. Daheim hatte mich noch niemand vermisst, ich war einfach nur glücklich darüber, Toni wiedergefunden zu haben.

Was ich nicht wusste: Wenige Jahre davor war auf russischem Boden ein junger deutscher Soldat gefallen; er war der geheim gehaltene voreheliche Sohn meiner Mutter – mein großer Bruder.

Herma Brandenburger

Bild: Adobe Stock

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