Einen Fuß vor den anderen setzen
Es beginnt manchmal damit, dass man ein Bein aus dem Bett schwingt und sich erhebt. Der Tag beginnt. Was er bringt und zu welchen neuen Ufern er sich bewegt, ist noch ungewiss. Jeder Tag ist daher ein Wagnis.
Es ist nicht immer der spektakuläre Neubeginn, der Epoche macht, weil er alles bisher Gewohnte aus den Angeln hebt, was man seit jeher so und nicht anders gewohnt war. Verblüffen kann man durchaus auch mit kleinen Aufbrüchen, andere ebenso wie sich selbst. So springt garantiert nicht jeder beim morgendlichen Weckerklingeln gleich mit beiden Beinen aus dem Bett. Lieber lässt man es langsam angehen; erst das eine Bein, dann das andere „hinaus ins feindliche Leben“ hinterherziehen.
Die Stillen im Lande, denen allmorgendlich die Entscheidung schwerfällt, aufzustehen oder liegenzubleiben, warten jedoch manchmal mit einem Aufbruch auf, der alle überrascht und manchmal sogar regelrecht schockt. Wer anfangen will, muss aufstehen, muss alles stehen und liegen lassen, sagt doch ein alter Spruch: „Wer wagt, gewinnt.“ Darin versteckt sich das Wort „Wagnis“, denn statt zu gewinnen, kann man auch verlieren. Doch wer nichts wagt, hat schon verloren.
Anfangen bedeutet Risiko – schon als Baby
Das ganze Leben ist ein einziges Wagnis, gespickt mit Risiken, dass einem Hören und Sehen vergehen kann. Kaum, dass man auf der Welt ist, geht es schon los: Bekanntlich ist das erste Lebensjahr das schwierigste, und nie wieder erlebt man eine intensivere Entwicklung als in diesem Zeitraum. Nicht lange, und es beginnen die ersten Schritte; die gehen noch Vater und Mutter mit, und das Kleine merkt, dass es Fuß vor Fuß setzen muss, wenn es weiterkommen will. Fuß vor Fuß setzen, aber nie den dritten vor dem zweiten Schritt wagen. In Kindheit und Jugend waren die Erwachsenen bemüht, uns zu vermitteln: „Mit Gott fang an, mit Gott hör‘ auf, das ist der beste Lebenslauf.“
Vor langer Zeit machte ich in einer westdeutschen Großstadt die Bekanntschaft einer Straßenbahnführerin, die auf das Abendgymnasium ging, um dort das Abitur nachzuholen. Danach wollte sie Theologie studieren und in den pastoralen Dienst gehen. Da war sie bereits vierzig, aber in ihrer Ernsthaftigkeit unbestritten. Mittlerweile aus den Augen verloren, hoffe und wünsche ich doch, dass sich ihr Traum von einer Gemeindeleitung erfüllt hat.
Eine Vision von dem, was werden soll
Wer etwas Neues beginnen will, braucht eine Vision, eine Vorstellung von dem, was werden soll. Bei manch einem Menschen zeichnet sich schon früh ab, wohin er mit seinem Wollen und Können tendiert. Manchmal dauert es halt ein halbes Leben lang, bis jemand dort ankommt, wo er eigentlich immer schon hinwollte, aber durch Steine, die ihm das Leben bis dahin in den Weg gelegt hatte, immer wieder an der Erfüllung gehindert wurde.
Niemand wird bestreiten, dass aller Anfang schwer ist, besonders, wenn ein Neubeginn nicht freiwillig geschieht, sondern einem vom Schicksal aufgezwungen wird. Auf einmal fühlt man vielleicht nur noch einen Abwärtstrend und kann ihm nichts entgegensetzen. Das Leben einfach fortsetzen, scheint nahezu unmöglich, weil alles aus dem Lot geraten ist, und man sich wie auf schwankenden Bohlen fühlt. Wie Schilf im Wind hin- und herschwankend, ist man anfällig für jede Art von Scheitern.
Viele Jahre in Zweisamkeit zusammengewachsen, wird alles sinnlos, wenn plötzlich einer fehlt, mit dem man lange eine Einheit verkörpert hat. Einfach flüchten ist keine Alternative, wenn kein Ausweg erkennbar ist; im Kalender keine Wochen und Monate, auf der Uhr keine Stunden und Tage, und für die Pflanzen auf der Fensterbank schon lange kein Wasser mehr. Da kann von Glück sagen, wer in Verantwortung eingebunden ist und standhaft bleiben muss. Verantwortung ist ein Gerüst zur Verstärkung des eigenen Rückgrats, um nicht zusammenzuklappen. Leicht sagt sich dagegen: „An deinem Platz soll keiner besser gestanden sein!“
Doch Zug um Zug stabilisiert einen, was bislang auf zwei Schulterpaaren geruht hat und nun von einem allein zu bewältigen ist, obwohl die Last manchmal unerträglich zu werden scheint. Mehr und mehr verebbt die Heftigkeit des Verlustschmerzes, und mit jedem weiteren Schritt nach vorne muss man sich jeden Tag neu erfinden. Schließlich wächst da, wo sich lange Zeit nur ein schwarzes Loch aufgetan hat, ganz zartes neues Gras, das irgendwann sogar tragfähig genug ist, dass man sich getrost darauf vorwärtsbewegen kann.
Herma Brandenburger
Foto: Rudolf Baier
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