Dem Leben Stabilität geben
Ja, es gibt sie noch: die Traditionen. Aber ob sie verwirklicht werden, ist unsicher und muss oft für jede Situation neu entschieden werden. Dabei könnten sie auch Halt geben.
Meine Freundin zeigte mir stolz die ersten Bilder ihrer neugeborenen Enkelin. Mutter und Kind waren gesund und wohlauf, und die ganze Familie freute sich über den Nachwuchs. So kreiste der erste Teil unseres Gespräches natürlich um das Baby, was sich alles dadurch verändert oder neu sortiert hatte. Irgendwann fragte ich ganz naiv, wann das Kind getauft wird, und schon während ich die Frage stellte, merkte ich, dass ich von traditionellen Vorgaben ausging.
Heute heißt die Frage nicht, wann das Kind getauft wird, sondern ob es irgendwann getauft werden soll. Diese selbstverständliche Tradition, dass Kinder einen Tag nach ihrer Geburt getauft werden, gibt es schon lange nicht mehr, meist lag in den vergangenen Jahren einige Wochen oder sogar Monate dazwischen und heute überlegen sich die Eltern, ob sie ihr Kind überhaupt taufen lassen wollen. Meist zum Leidwesen der noch in alten Traditionen verhafteten Großeltern.
Von der Wiege bis zur Bahre
Kirchliche Traditionen gab es von „der Wiege bis zur Bahre“. Jede wichtige Veränderung im Leben wurde mit Ritualen und Bräuchen begleitet. Viele Generationen erlebten dabei ähnliche Abläufe. Und jeder konnte dazu seine persönliche Geschichte weitererzählen. Den Zuhörenden waren die Rahmenbedingungen der Feiern vertraut und sie wussten ohne viel Erklärung, was daran lustig, peinlich oder traurig gewesen ist. Das ist heute nicht mehr so selbstverständlich.
Viele Traditionen sind seit Urzeiten mit der Religion verknüpft, zum Beispiel der Ablauf des Jahres. Es war strukturiert durch besondere Zeiten wie Fasching, Karneval, Fastenzeit, Adventszeit, oder durch die Feier der Hochfeste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Daneben gab es das ganze Jahr über kleine Fest- oder Gedenktage. In alten Bauernregeln, die manchmal noch als Kalendersprüche auftauchen, ist das gut zu erkennen.
Früher sind die Lebensabläufe über Generationen ähnlich geblieben und wurden durch gleichbleibende Traditionen begleitet. Dieser feste Rahmen gab den Menschen Sicherheit. Sie waren dadurch in eine Gemeinschaft eingebunden und bekamen ein Gefühl von Kontinuität. Das, was in der Vergangenheit schon gegolten hat, wird auch zum Fundament für die Zukunft. Jeder Einzelne ist Teil eines größeren Ganzen, übernimmt Werte und Handlungsmuster einer Gemeinschaft und gibt sie an die nächste Generation weiter. Das gibt Stabilität in schwierigen Situationen, das erlaubt Spaß zu haben und maßvoll Grenzen zu überschreiten, es gibt Halt bei Schicksalsschlägen und hilft eine Dankbarkeit für gelungenes Leben auszudrücken.
Vielfalt von Lebensentwürfen
Heute verändern sich die Lebensabläufe sehr schnell. Wir kennen eine große Vielfalt von Lebensentwürfen und haben mehr Auswahlmöglichkeiten. Deshalb verlieren viele Traditionen ihre besondere Bedeutung. Sie sind ein Rahmen, der in heutiger Zeit zu eng geworden ist, oder aus dem viele im Laufe ihres Lebens ausgestiegen sind. Doch das Grundbedürfnis nach Ritualen und immer wiederkehrenden Handlungsmustern ist trotzdem geblieben.
Wir brauchen Traditionen, um unser Leben zu strukturieren, sie geben uns Ausdrucksmöglichkeiten für unsere Gefühle, sie drücken unsere Beziehung mit anderen Menschen aus und verbinden uns mit den Gemeinschaften, in denen wir leben. Sie bieten Muster, mit denen wir Mitgefühl, Solidarität und Zusammengehörigkeit ausdrücken können, sie werden zu unseren Erinnerungen und erzählen damit unsere Lebensgeschichten.
An manche Traditionen, die verloren gingen, denkt man mit Wehmut zurück, manche Traditionen wurden bedeutungslos und werden auch nicht mehr verstanden. Viele Traditionen aber bleiben, weil sie sich verändern und dem neuen Lebensrhythmus anpassen.
Gertrud Brem
Bild: AdobeStock
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