Roswitha will groß sein
Hedwig Faber ist vierzig Jahre alt, als sie eine Tochter zur Welt bringt. Fünf Wochen zu früh, ein kleines Mädchen mit schwachen Gliedern und dünnem Blondhaar. Als das Baby endlich da ist, bringt man es sofort weg. Keiner sagt der weinenden Wöchnerin, was los ist.
„Ich wusste es vom ersten Augenblick an: Roswitha ist nicht normal!” erzählt Hedwig Faber. Ihre Stimme klingt sachlich. Die Zeit hat den dramatischen Augenblick jener schrecklichen Erkenntnis wie Wasser einen harten Kiesel geglättet. Das Kind ist nicht normal – das Entsetzen ist aus diesem Satz heute längst gewichen. Doch wenn Roswitha den Raum betritt, kommt die grausame Wahrheit mit. Das strahlende „Kindergesicht“ der erwachsenen Frau trägt die Spuren eines Gendefekts: Trisomie 21 oder Down-Syndrom genannt.
Für Ungeborene ist die Entdeckung eines solchen Defekts heute oft das Todesurteil. Pränatale Diagnostik macht´s möglich, dass es solche Menschen wie Roswitha nicht mehr geben muss. „Ich will das Kind nicht!“ wehrte sich Hedwig Faber damals, als man ihr die Tochter zum ersten Mal in den Arm legte. Sie sieht sofort die Zeichen der Behinderung am eigenen Kind.
„Roswitha ist heute unsere Mitte und unser Leben“, sagt Hedwig. Das „Kind“ ist der Sonnenschein im Kreise der Familie und der Freunde. Wer Roswitha kennt, wird beschenkt durch ihre Fröhlichkeit, Aufrichtigkeit und kindliche Offenheit.
Roswitha soll ein glücklicher Mensch sein
Das Ehepaar Hedwig und Philipp hat sich ganz mit ihrer Aufgabe identifiziert: Roswitha soll ein glücklicher Mensch sein. Von Anfang an ist dies auch der aufrichtige Wunsch ihres Vaters. Er sorgt für Mutter und Kind. Hedwig will ihr Kind unbedingt stillen. Roswitha soll alles bekommen. Philipp unterstützt seine kleine Familie, wo er kann. Ein Haus wird gebaut, ein Garten angelegt. Roswitha bekommt schöne Kleidchen wie andere kleine Mädchen. Sie darf überall mit, das sonnige Kind wird ganz selbstverständlich zu Verwandten, Freunden und Nachbarn gebracht. Nein, voller stolzer Glückseligkeit ist Philipp Faber nicht. Bei Roswithas Taufe weint er.
Roswitha lernt mit vier Jahren Laufen, später auch Radfahren und Schwimmen. Sie spielt wie andere Kinder auf der Straße, geht in den Kindergarten. Danach besucht sie die Förderschule. Im Sommer verbringt die kleine Familie Urlaub in den Bergen.
Roswitha will groß sein und weiß, dass sie „Papis und Mamis kleines Kind ist”. Sie will zur Party. Sie weint bitterlich um ihre sterbenskranke Freundin, dann dreht sie die Musik ganz laut. Sie hat wieder zu viel gegessen, langsam wird ihr Übergewicht bedenklich. Die Eltern sorgen sich um ihre Gesundheit. Roswitha sieht das nicht ein.
Philipp ist 74 Jahre alt, und manchmal wird ihm alles zu viel. Roswitha sucht Trost, doch Papi lässt sich nicht umarmen. „Sie braucht so viel Zärtlichkeit“, sagt Hedwig. Roswitha liebt viele und viel. Sie will heiraten und Kinder kriegen. Ein unmöglicher Traum. Roswitha beschenkt die, die sie liebt, mit hingebungsvoller Anhänglichkeit, Liebe und Zärtlichkeit.
„Ich wuchs immer tiefer und tiefer durch Roswitha in eine Beziehung mit meinem Gott”, gesteht Hedwig. Ihr Glaube wird reifer. An keinem Tag versäumt sie die Messe. Sie findet Zuflucht bei Christus.
Viele kleine Blumen blühen in Hedwigs Garten. Sie bückt sich und pflückt einen riesigen Strauß für mich. Sie umarmt mich und schaut in den Himmel, der sich in ihren schönen, blauen Augen spiegelt.
Vera Novelli
Bild: Vera Novelli
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