Anhalten!
Wege brauchen Stationen, kleinere oder größere. Manche sind eingeplant, andere ergeben sich unterwegs. Sie sind einfach notwendig.
Hinaus in die weite Welt – aber ohne Geld! Je näher die Sommerferien kommen, desto intensiver melden sich verlockende Träume, zuweilen wachsen sie sogar zu Plänen heran. Schützenhilfe leistete in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Bundesmarine. Sie warb bei Schülern mit Informationsfahrten auf der Ostsee um Nachwuchs. Hans und mich reizte besonders der Freifahrtschein vom Bodensee bis nach Flensburg, mit der Bahn hin und zurück. Vielleicht war dann sogar noch Kopenhagen mit der kleinen Meerjungfrau erreichbar?
Tatsächlich lief alles nach Plan. Lang war die Bahnfahrt, aber im Marinehafen Glücksburg bei Flensburg wartete schon das Minensuchboot bei strahlendem Sonnenschein. Wegen den engen Platzverhältnissen blieben die Erkundigungen an Bord sehr beschränkt, begehrter war der legendäre Eintopf. Selbst die Sichtung der patrouillierenden DDR-Kollegen durch das Fernrohr konnte nicht verhindern, dass unsere Gedanken schon weiterzogen. Wir wollten doch Kopenhagen erreichen, natürlich per Autostopp.
„Plötzlich durchfuhr mich ein Schreck“
Es lief erstaunlich gut (heute nahezu unvorstellbar). Nur wenige Male mussten wir den Daumen nach oben halten. Mit einmal „umsteigen“ von einem Mercedes auf einen Opel waren wir schon in Kiel. Dort hielt fast ohne Wartezeit ein VW-Käfer an. Schnell war unser dürftiges Gepäck verstaut, die Umhängetasche hinter den Rücksitz geworfen und unser „Chauffeur“ über unseren nächsten Haltepunkt informiert: Puttgarden auf der Insel Fehmarn, um dort die Fähre der Vogelfluglinie zu erreichen. „So weit fahre ich nicht. Ich muss vorher rechts abbiegen. Aber von dort kommt ihr sicher schnell weiter“, meinte der Fahrer. So war es auch.
An der angekündigten Abzweigung angekommen, dauerte der nächste Autowechsel keine fünf Minuten, aber weitere zehn Minuten später durchfuhr mich plötzlich ein Schreck: Ich hatte meine Umhängetasche samt Geld, Bahn-Rückfahrschein und Personalausweis im VW-Käfer liegen gelassen. Unser neuer Fahrer riet uns, beim nächsten größeren Ort auszusteigen und sofort zur Polizei zu gehen, denn bald werde es Nacht.
So landeten wir in Heiligenhafen, dem reizenden Kleinstädtchen am Ostseestrand. Die Polizei war rasch gefunden, aber was sollten wir dort sagen? Wir wussten nur, dass der VW rechts abgebogen ist. Nicht einmal die Autonummer kannten wir. Da fiel Hans ein: „Das war ein rotes Kieler Nummernschild.“ Das Gesicht des zunächst ratlosen Polizisten hellte sich auf: „Bis morgen früh kann ich euch sicher mehr sagen!“
Doch nun: Wo übernachten, dazu ohne Geld? Wir hielten Ausschau nach einem Bauernhaus mit einem Heustadel. Schnell fanden wir eines, sogar mit einem Fremdenzimmer, doch das war für uns nicht erschwinglich. Wir klingelten an der Haustüre, klopften und schrien – endlich öffnete sich die Tür. „Was wollt ihr?“, blaffte die Bäuerin uns an. Schnell war unsere missliche Lage geschildert: „Wir suchen nur ein Nachtlager im Heu!“ Prompt kam die Antwort: „Kommt nicht in Frage. Was da alles passieren kann. Und dann raucht ihr in der Nacht.“
„Jetzt lass halt die beiden Jungs in die Scheune!“
Wir bettelten und schworen, dass wir bestimmt nicht rauchen. Außerdem müssten wir für die Polizei erreichbar sein, damit sie uns verständigen könne, sobald meine Tasche gefunden sei. Da meldete sich vom oberen Stockwerk von der Treppe herab eine Männerstimme (das war der Bauer): „Was ist denn hier für ein Geschrei?“ Nochmal versuchte ich, unsere Notlage zu erklären, dann sagte er zu seiner Frau: „Jetzt lass halt die beiden Jungs in die Scheune!“ Ein Stein fiel uns vom Herzen. Müde und hungrig suchten wir ein geeignetes Plätzchen im Heu und waren bald im Schlaf versunken.
Am Morgen, die Sonne stand schon hoch am Himmel, kam die Bäuerin in die Scheune und rief: „Hallo, kommt ins Haus, dort könnt ihr duschen und dann frühstücken!“ Ungläubig schauten wir uns an. Tatsächlich hatte die Bäuerin ein üppiges Frühstück vorbereitet mit Kaffee, Milch, Brot und Brötchen, Butter, Wurst und Käse. Zwischendurch sagte sie: „Übrigens, die Polizei hat gestern abend noch angerufen. Der VW ist ermittelt. Aber so spät wollte ich euch nicht mehr stören, doch die Tasche müsst ihr auf der Polizeistation in Eutin abholen.“
Das Folgende ist schnell erzählt. Wir bedankten uns überschwänglich bei dem Ehepaar für die Gastfreundschaft, trampten nach Eutin, dann wieder zurück nach Heiligenhafen und weiter nach Puttgarden, mit der Fähre nach Rodbyhavn und erreichten schließlich Kopenhagen, unser Ziel. Doch die Meerjungfrau konnten wir nicht mehr aufsuchen, denn wir standen unter gewaltigem Zeitdruck. Wir mussten ja in Hamburg wegen des Freifahrtscheines unseren Zug wieder erreichen.
Nach ca. drei Stunden in Kopenhagen ging es daher per Autostopp wieder zurück. Wir hatten zwar mit viel Hektik und zahlreichen Abstrichen unser Ziel erreicht, aber unser eigentliches Erlebnis war die Station in Heiligenhafen.
Eine glückliche Fügung
Zwei Jahre später habe ich mit Helmut, einem anderen Freund, fast die gleiche Reise noch einmal unternommen mit ähnlicher Strategie. Diesmal war der Marinehafen Neustadt in Holstein unser Stützpunkt. Selbstverständlich hatte ich einen Besuch in Heiligenhafen eingeplant. Das Haus mit dem Heustadel war rasch gefunden. Als ich an der Türe läutete, kam auch schon die Bäuerin. Sofort erkannte sie mich. Schwankend zwischen Lachen und Weinen sagte sie: „Zwei Wochen, nachdem ihr beiden hier gewesen seid, ist mein Mann ganz plötzlich verstorben. Heute noch höre ich ihn sagen: ‚Lass die Jungs in die Scheune!‘ So war er: hilfsbereit mit einem guten Herzen.“ Dass ich nochmal dieses Haus aufgesucht habe, erwies sich als eine allseits beglückende Fügung.
Dann sind wir weitergereist, mit einem Auto nach dem andern und haben in Kopenhagen die Meerjungfrau erreicht. Doch bedeutsamer als das Ziel war die Zwischenstation in Heiligenhafen. Auch der Bäuerin blieb dieses Erlebnis in nachdenklicher, sogar dankbarer Erinnerung.
Peter Hinsen
Bild: AdobeStock
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