Hörst Du nicht die Glocken?
„Dong, dong, dong …“ – das Läuten der Zwölf-Apostel-Glocke gehört zu meinen frühen Kindheitserinnerungen. Der tiefe Klang, der vom hohen Turm der mittelalterlichen St.-Georg-Kirche in Nördlingen zu mir herunterhallte, wirkte auf mich mystisch. Diese Glocke ist wirklich etwas Besonderes, wie ich später erfahren habe. All ihre anderen großen oder kleinen Schwestern hoch droben in den Kirchtürmen haben ebenfalls Geschichte(n) geschrieben. Allerdings wird ihr Klöppelschlag heute oft übertönt oder überhört.
Früher hat man da genauer hingehört. Wobei es eine ganze Weile dauerte, bis die Kirchenglocken ab dem Mittelalter überall in Europa läuteten. Davor bot kein Glockenschlag Orientierung. Unsere Vorfahren richteten ihren Tagesablauf zunächst vor allem nach dem Stand der Sonne, nach ihrem Aufgang und ihrem Untergang. Geweckt wurde man vom Krähen des Hahns. Das Zeitgefühl orientierte sich an der Natur und dem Verlauf der Jahreszeiten. Es waren zunächst Mönche, die es genauer mit der Uhrzeit nahmen. Glocken hielten Einzug in den Klöstern. Sie riefen zum Gottesdienst und ordneten somit die Zeiten zwischen Gebet und Arbeit.
Welche Stunde hat geschlagen?
Später lud der Glockenklang auch außerhalb der Klostermauern dazu ein, sich gemeinsam in den Kirchen zu versammeln. Auch morgens, mittags und abends wurde und wird immer noch zum Gebet geläutet. Erst recht der Stunden- und noch mehr Viertelstundenschlag begannen, den Tagesablauf einzuteilen. Bis ins 18. Jahrhundert brauchten die meisten Menschen keine genauere Uhr. Heutzutage erleben wir mit unseren Handys und Armbanduhren eine mindestens minutengenau durchgetaktete Uhrzeit. Meine Fitnessuhr registriert sogar exakt Sekunden, Rundenzeiten, Puls, Schlafzeit, zurückgelegte Strecke und gibt Kommandos wie „Bewege Dich“. Dabei geht es eigentlich um Freizeit. Also freie Zeit, die da vielleicht in ein zu enges Zeit-Korsett gepresst wird? Selbst Zeit-Experten fragen sich da: Ticken wir noch richtig?
Der Klang der Kirchenglocken lässt da in eine andere, weniger hektische Richtung denken: an einen menschlicheren Rhythmus in weiten Zeiträumen. Das Geläut begleitete einen das ganze Leben lang von der Wiege bis zur Bahre. Dank der Glocken wusste man, welche Stunde geschlagen hatte. Sie läuten immer noch den Sonntag und Festtage ein, rufen zum Frieden auf, warnten vor Feuer und anderen Gefahren. Immer höher wuchsen die Kirchtürme als Wolkenkratzer ihrer Zeit, auch damit das Geläut weithin hörbar war, und zwar für alle. Es geht um etwas Verbindendes, um Gemeinschaft. Der typische Klang eines Geläuts kann als akustische Visitenkarte Heimatgefühle wecken.
Von hoch droben tönt es aus den Glockenstuben und doch war dies früher eng verbunden unten mit dem Alltag der Menschen. Der himmlische Klang lädt zum Gebet ein und auch dazu, Sorgen und Nöte nach oben zu schicken. Es geht darum, Himmel und Erde miteinander zu verbinden. So war dies schon in asiatischen Tempeln, wo die Glocken ihren Ursprung haben sollen.
Einladung zum Innehalten
Mittlerweile hat der Lärm der Neuzeit die Kirchenglocken etwas in den Hintergrund treten lassen. Trotzdem lohnt es sich, immer wieder auf sie zu hören und innezuhalten. Die Glocken können daran erinnern, dass wir uns nicht ständig durch die vom Menschen erdachte mechanische Uhrzeit hetzen lassen sollten. Viel erfüllender kann eine persönliche Zeiterfahrung sein im Wissen darum: Gott hat uns die Zeit geschenkt.
Irgendwann schlägt dann jedem auf Erden die letzte Stunde. Auch viele Glocken sind für immer verstummt. Vor allem in Kriegszeiten sind sie massenhaft eingeschmolzen worden. Der anfangs erwähnten großen Nördlinger Glocke wäre es beinahe so ergangen. Sie läutete früher in der größten Kirche Pommerns in Stargard (heute Polen) und hieß im Volksmund Schlangenglocke. Gegossen wurde sie nämlich aus Überresten einer mittelalterlichen Glocke, die einer Sage nach mit ihrem Klang Schlangen vertrieb. 1944 wurde sie zum Glockenfriedhof nach Hamburg transportiert, überstand das Kriegsende aber unversehrt. Als sogenannte Leihglocke fand die Glocke aus Pommern in Nördlingen 1952 eine neue Heimat. Es wird Zeit, ihr wieder mal zu lauschen.
Andreas Schmidt
Bild: AdobeStock
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