Auch aus diesem Heft:

Wissen die Menschen der Wegwerf-Gesellschaft noch zu schätzen, was sie essen, und was sie kaufen können?

„Ausreichend“ - eine gute Note

Ein Professor, der mit Anerkennung sehr geizte, pflegte zu sagen: „Ausreichend ist eine gute Note“. Seine Studenten empfanden das nicht so. Ihnen wäre schon ein „gut“ lieber gewesen. Aber bei manchen löst das Zeugnis, dass eine Leistung, ein Schatz an Wissen und Fähigkeiten wenigstens für den Augenblick „ausreichend“ ist, sogar eine Befreiung von vielen Ängsten aus, eröffnet einen freundlichen Blick in die Zukunft.

Als beim Abitur meine Griechisch-Kenntnisse mit „ausreichend“ benotet wurden, fiel mir eine Zentnerlast vom Herzen. Das reichte für das Bestehen der Reifeprüfung. Mein „sehr gut“ in Mathe war in diesem Moment nicht so wichtig, denn selbst ein „gut“ hätte keine gravierende Auswirkung gehabt. Eine „vier“ hätte mich allerdings wie ein unerwarteter k.o.-Schlag getroffen. Aber eine „vier in Griechisch war die Erlösung schlechthin. Bei etlichen Mitschülern war es genau umgekehrt.

Was ist „ausreichend“?

Der jeweilige Anspruch entscheidet wohl, ob die Note „ausreichend“ Erleichterung oder Enttäuschung auslöst. Wer Reichtum gewöhnt ist und für selbstverständlich hält, der empfindet das „nur Ausreichende“ als Einschränkung, schon fast gleichbedeutend mit „mangelhaft“ oder „ungenügend“, der Notleidende aber ist glücklich darüber, dass das Leben weiter gehen kann.

Und was bedeutet es für das jeweilige Selbstwertgefühl, wenn andere das Urteil „ausreichend“ über mich fällen? Nicht selten meldet sich dann zuweilen der Verdacht, dass ich vielleicht weniger gemocht werde, dass mir Verdientes vorenthalten wird. Viele sind von der Versuchung bedroht, ihren Eigenwert herabzustufen, nur weil sie im Vergleich mit anderen in einigen Punkten schlechter abschneiden, weniger können, wissen, nicht so viel besitzen.

Das ist zwar Unsinn, aber an jedem Urteil klebt diese Nebenwirkung, mehr oder weniger nachhaltig. Beispiele dafür sind allgegenwärtig. Der eine hat einen reicheren Papa, die andere eine attraktive Figur, dieser bessere Beziehungen, jene ist ideenreicher. Schon fällt das Urteil, was „ausreichend“ ist, unterschiedlich aus.

Unternehmer oder Politiker legen einen angemessenen Mindestlohn fest, den sie für sich selbst nie akzeptieren würden, weil er unter ihrer Würde wäre. Oder die Grundrente. Wo sie noch durch etliche Zugaben ergänzt werden kann, mag sie „ausreichend“ sein, doch wer nur auf seine „Lebensleistung“ angewiesen ist, muss schon zu rechnen beginnen. Was ist „ausreichend“ für einen gut situierten Manager und was für einen mittellosen Asylbewerber?

Was für andere „ausreichend“ ist, dieses Urteil ist oft auch von eigenen Erfahrungen beeinflusst. So erscheint manchmal Heimatvertriebenen in der Erinnerung an ihre eigene Not vor 75 Jahren die heutige Unterstützung für Flüchtlinge als zu üppig, also mehr als nur „ausreichend“. Oder die Löhne für heutige „Azubis“ mehr als reichlich angesichts dessen, was man vor x-Jahren selbst im ersten Lehrjahr verdiente. Die Maßstäbe, was einst und heute, für mich und andere als „ausreichend“ angesehen wird, sind sehr wandelbar, meist auch anfechtbar und doch über jede Kritik erhaben.

Der verheißene ausreichende Lohn

Jesus erzählt eine Geschichte von einem Gutsherrn, der jedem seiner Arbeiter einen Denar als „ausreichenden“ Lohn gibt (Mt 1-16). Aber genau damit löst er großen Unmut aus, denn nicht alle haben die gleiche Leistung erbracht. Das Verlangen nach Gerechtigkeit – oft entpuppt es sich als purer Neid – ist häufig das größte Hindernis, allen zuzubilligen, was für sie „ausreichend“ ist. Manche erwarten in hoffnungsvoller Resignation, dass wenigstens Gott am Ende der Tage bei der großen Abrechnung leistungsgerecht urteilt, vor allem bei den andern. Bei mir selber kann er ja ruhig etwas großzügiger sein. Aber Jesus macht klar, dass wir mit solchen Vorstellungen bei Gott auf dem Holzweg sind. Gott ist kein kleinkarierter Buchhalter, der nach einem fein säuberlich geführten Konto mit uns abrechnet. Gott liebt uns Menschen und will uns das Glück in ausreichendem Maß schenken, so wie er es uns verheißen hat.

Gottes Maßstab ist seine Liebe

Das hat Jesus immer wieder bestätigt. Trotzdem will das nicht in unseren Kopf. Warum nur sind wir so fixiert auf dieses Leistungsdenken, unter dem wir am Ende doch tagtäglich leiden? Jeder, der sich Gott zur Verfügung stellt, kann darauf vertrauen, dass er den abgemachten Denar – genauso wie die andern – erhalten wird. Und der ist „ausreichend“. Mehr gibt Gott nicht und mehr brauchen wir nicht.

Unser rücksichtsloser leistungsbezogener Wettbewerb, der oft über Leichen geht, mag heute vielleicht erfolgreich erscheinen, aber er wird keinen Bestand haben. Ich muss zugeben, die „ausreichende“ Griechisch-Note war für mich damals enorm wichtig, aber im „Lichte der Ewigkeit“ relativiert sich ihre Bedeutung. Es ist müßig zu spekulieren, wie mein Lebensweg bei einem Scheitern im Abitur verlaufen wäre. Entscheidend ist: Gott beurteilt nach seinem Maßstab, was „ausreichend“ ist. Es ist der Maßstab des liebenden Vaters. Und dann ist „ausreichend“ eine gute Note. Das versichert uns Jesus.

Peter Hinsen

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