Geschichten öffnen neue Welten
Das Erzählen weist weit über den einzelnen Menschen hinaus. Familiengeschichten wurden über Generationen hinweg weitergegeben. Die Heilige Schrift öffnet noch viel weitere neue Horizonte. Davon ist Pater Erik Riechers vom pallottinischen Zentrum „Siebenquell“ für Narrative Theologie in Vallendar überzeugt.
»Nimm die Geschichten ernst!« Ich habe wohl kaum ein Wort so oft wiederholt in den letzten 34 Jahren wie dieses. Wir sollten die Geschichten ernstnehmen, weil nichts uns so schnell zum Rande der Apokalypse bringt als die Stunde, in der die Erzählungen ihre Macht verlieren, uns zu bezaubern. Wer keine Erzählungen mehr genießt, wird irgendwann das Leben opfern und wegwerfen.
Wir sollten lernen, auf die Geschichten Gottes in allen Dingen zu hören, in uns selbst, in den anderen, in der ganzen Schöpfung, in der gesamten Heiligen Schrift, damit wir jede Geschichte, die Gott erzählen will, hören, achten und ehren. Denn diese Geschichten Gottes erzeugen neue Welten. Sie öffnen uns Welten mit Horizonten und Perspektiven, die wir bisher nicht kannten. Ein Mensch ohne diese Erzählungen lebt in der Einschränkung, ist verarmt.
Die Geschichten Gottes sagen etwas aus über uns und über Gott. Sie sind fesselnd. Sie sind provokativ. Sie sind gefährlich. Wenn die Erzählungen ihre Macht verlieren, uns zu bezaubern, dann geht uns die Welt, die sie erzeugen, verloren. Wir erzählen Geschichten nicht, um andere auszubilden oder sogar zu indoktrinieren, sondern um den Leser oder Hörer in eine andere Welt der Hoffnung zu locken. Wenn sie aus dieser Welt wieder hervortreten, dann tun sie es mit einer veränderten Sicht der Möglichkeiten in ihrem Leben. Wenn diese Geschichten nicht mehr die Macht haben, uns bezaubern, dann geht auch eine Welt der Hoffnung und Möglichkeiten verloren.
Wer hört mir noch zu?
Maya Angelou, eine begnadete Erzählerin, behauptete: »Es gibt nichts Schlimmeres, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.« Was nicht erzählt wird, macht uns krank. Heute zahlen Menschen teures Geld, damit Therapeuten sie ermutigen, ihre Geschichten zu erzählen. In vielen Fällen sind sie die einzigen, die bereit sind, sich diese Geschichten anzuhören. Aber wenn es nur noch Menschen gibt, die das gegen Bezahlung tun, wird eine Frage in unseren Herzen wach: Wo sind die Menschen, die meine Geschichten anhören, weil ich es bin, weil ich es wert bin, weil meine Geschichte wertvoll ist und es sich lohnt, sie zu hören?
Erzählen ist auch ein generationenübergreifendes Unternehmen. Denken wir an die Baumeister der großen gotischen Kathedralen. Sie wussten, dass sie lange tot sein würden, bevor ihr Werk vollendet war. Sie vertrauten darauf, dass ihre Urenkel die letzten Steine legen würden. Wir haben diese Art von Generationen übergreifendes Denken verloren. Die Kraft von Geschichten besteht darin, dass sie eine Intelligenz aktivieren, die man niemals in einem Klassenzimmer lernen kann. Geschichten werden von den Älteren in den Mund genommen und über Generationen hinweg weitergegeben, wobei sie den Jüngeren anvertraut werden. Auf diese Weise wird unser Leben durch Wissen und Verpflichtung gestärkt.
In vielen Familien werden Geschichten aus einer Zeit erzählt, die älter ist als wir alle. Es gibt ein einzigartiges Vertrauen, ähnlich wie beim Glauben, das während des Geschichtenerzählens entsteht. Sobald wir die Geschichte erhalten, wird sie zu unserer eigenen. Wenn wir unsere Geschichten weitergeben, bringen wir alles mit, was wir in uns trugen, als wir selbst sie das erste Mal empfingen. Das Geschichtenerzählen der Generationen ist ein Katalog mit all den Orten, an denen wir gewesen sind. Es ist ein Buch, das den Menschen anvertraut wurde, um sicherzustellen, dass die wesentlichen Anliegen des Herzens nicht vergessen werden.
Der Gott der Erzählungen
Diese Geschichten sind auch Teil unseres entwickelnden Glaubens und unserer Beziehung zum Gott der Erzählungen. In ihnen erfahren wir, dass Gott mit uns, für uns, aber niemals gegen uns arbeitet. Die Bewahrung unserer Geschichten bewahrt unseren Glauben.
Wir sind am Ende verloren, wenn unsere Geschichte nicht gewürdigt wird. Es ist eine Ehre, eine Geschichte auf dem Rücken zu tragen, und wir hoffen, dass unsere Kinder diese Rucksäcke in die Hand nehmen, sie mit neuen Geschichten füllen und die alten weiter tragen werden.
Nur so überleben die Menschen. Die Geschichte sitzt im Mutterschoß des Herzens und wartet auf ihre Geburt. Jedes Mal, wenn eine Geschichte geboren wird, verwandelt sie sich schnell in ein Generationstrauma, in gegenwärtige Ungerechtigkeiten und in situative Höhepunkte. Wir geben diese Erzählungen weiter, damit wir nicht ewig in Wüstenräume umherwandern. In den Erzählungen Gottes schließen wir unsere Kinder und Enkelkinder in die Arme, um sie zum Leben zu inspirieren. Wir beauftragen unsere Familie und Freunde mit der Aufforderung zu tiefem Staunen und Vorstellungskraft, denn wenn wir die Geschichten am Leben erhalten, können wir dem Leben weiterhin mit unglaublichem Glauben trotzen.
P. Erik Riechers
Bild: supersizer/iStock
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