Die Frömmigkeit, die das Leben verneint
Was Menschen als fromm definieren muss noch lange nicht dem Leben frommen. Im religiösen Leben ist es wichtig, die Geister unterscheiden zu lernen. Denn eine Flucht vor der Welt darf der Glaube nicht sein. Er muss dem Leben dienen, dem Wert des Lebens.
Sie will ins Kloster eintreten, doch die Äbtissin lehnt sie nach zwei Monaten Probezeit ab. Dabei ist sie doch berufen, sagt die junge Frau mir am Telefon. Sie bete viel, opfere Gott alles auf, verzichte auf alles Weltliche und und und. Die Äbtissin nannte ihr nicht die Gründe für die Ablehnung. Im Gespräch wird mir einiges klar. Mir kam es wie eine Flucht vor, ein Weglaufen vor der schnöden Welt.
Einen Freund hatte sie nie gehabt; Konflikten ist sie aus dem Weg gegangen, und bei familiären Auseinandersetzungen verzog sie sich auf ihr Zimmer, um zu beten. Ihre Stimme war die einer 17-Jährigen, obwohl sie an die vierzig war. Erwachsen schien sie mir nicht zu sein. Ihr Gottesbild sowie ihre spirituelle Ausrichtung hatten etwas Naives, eher kindisch als kindlich.
Gelebtes Christsein sollte lebendig und weltoffen machen
Als ich ihr meinen Eindruck darlegte und ihr empfahl, erst einmal das Leben anzupacken, sich einer Beziehung nicht zu verschließen und zu lernen, Konflikten stand zu halten, zeigte sie sich überrascht und zugleich dankbar. Sie sah ein, dass ihr Klosterwunsch einer Flucht gleichkam. Warum aber hat das die Äbtissin nicht gesagt?
Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass sich manche religiös geprägten Menschen auf Worte der Bibel und Aussagen des Katechismus berufen, wenn sie übertriebene und gesetzlich betonte Denk- und Verhaltensweisen begründen. Da entdecke ich mitunter viele –ismen, die im Deckmantel einer narzistisch geprägten Frömmigkeit praktiziert werden und das eigene Leben wenig lebenswert machen: Fundamentalismus, Rigorismus, Fanatismus, Moralismus, Traditionalismus. Das ist wie das Ausziehen einer langen Antenne, jedoch ohne jegliche Erdung.
Sünde, die weckt, kann wertvoller sein als Tugend, die einschlafen lässt
Wenn religiöse Motive vorrangig der Selbstentfaltung und nicht aus Liebe zu Gott eingesetzt werden, wenn das Gewissen nur beruhigt werden kann durch zwanghaftes Befolgen auferlegter Gebetsleistungen, und wenn aus Angst vor einer Verfehlung das Leben nicht mehr gewagt wird, dann wurde die Lehre Jesu gründlich missverstanden. Und dann kann die Sünde, die weckt, wertvoller sein als die Tugend, die einen einschlafen lässt.
Die eigentliche Schuld nicht weniger Christen besteht in der frommen Verweigerung von notwendigen Auseinandersetzungen und angstbesetzten Abwehrmechanismen wie unzählige religiöse Verzichtleistungen als Kompensation für echte oder vermeintliche Schuld. Solche Menschen verfallen nicht selten in infantile Verhaltensmuster: Sie glauben an alle möglichen Heiligenfiguren, sind aber im Innersten unentwickelt. Es ist für sie unmöglich, Gebote verantwortlich zu übertreten, so wie es Jesus tat. Ihre Frömmigkeit ist statisch, geprägt vom Gedanken, den Himmel verdienen zu müssen.
Gehorsam hält sich an Verbote - Liebe weiß, sie zu brechen
Wenn das so stimmt, brauchen wir mehr Liebe. Denn wir alle haben doch die Erfahrung gemacht, dass weltweit auch viel Unrecht geschieht durch Gehorsam. Sicher: Wer sich an Ge- und Verbote hält, macht juristisch nichts falsch. Doch das wird in vielen Fällen dem Menschen nicht gerecht. Paragrafen vermögen nicht alles abzudecken; da muss dann die Klugheit in Verbindung mit der Liebe entscheiden.
Und genau das tut Jesus. Eine solche Entscheidung gegen ein Gebot bedarf allerdings einer gewissen Courage, gegen den Strom zu schwimmen und am Ende vielleicht doch geirrt zu haben. Jedoch: Ein Irrtum aus Barmherzigkeit ist vor Gott stets gerechtfertigt. Mir scheint, dass es noch zu viele Christen gibt, denen es an Selbstbehauptung und an der Fähigkeit, eigene Ziele zu verfolgen, fehlt. Es herrscht ein Mangel an Selbstliebe; sie haben gelernt, selbstlos zu sein bedeute, sich zu unterwerfen und eigene Interessen zu unterdrücken. Auf diese Weise leben sie nicht; sie werden gelebt.
P. Jörg Müller
Bild: Frömmigkeit soll nicht dem Tod dienen, sondern dem Leben, Rudolf Baier
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