Pater Rolf Fuchs SAC

Kirche darf die Lebenswirklichkeit anderer nicht aus dem Blick verlieren

Präfekt, Lehrer, Dekanatsjugendseelsorger, Heimleiter, Regens, Stadtpfarrer in Friedberg, drei Jahre Dekan des Dekanats Friedberg, Provinzkonsultor, Flughafenseelsorger, Rektor … Sie haben schon für viele verschiedene Aufgaben die Verantwortung übernommen. Seit 1988 haben Sie am Pastoraltheologischen Institut in Friedberg die Ausbildung von Seelsorgern verantwortlich mitgestaltet. Ist das wie ein roter Faden, der sich bis heute durch Ihr pallottinisches Engagement zieht?

Ich habe bereits 1986 im PthI mitgearbeitet, ab Oktober 1988 dann allerdings offiziell als stellvertretender Regens und ab 1996 als Leiter. Im Jahr 2008, ich war damals 60 Jahre alt, habe ich mir gedacht: „Jetzt musst du etwas anderes machen“, bevor die jungen Leute denken, „wann geht er jetzt endlich, der alte Opa.“ Deshalb bin ich damals nach Meran gegangen, um in unserem Gästehaus Freizeit- und Bildungsangebote zu bieten.

Allerdings hat mich der damalige Regens des PthI, Pater Thomas Lemp, bereits 2009 wieder um Mithilfe im PthI gebeten. Ich muss gestehen, ich bin gern zurückgekommen. Das Alter und die damit verbundene Lebenserfahrung bieten ja auch Chancen. Und die frischgebackenen Seelsorger lassen sich von einem alten Hasen vielleicht auch das eine oder andere sagen.

Was sagen Sie denen?

Seelsorgeausbildung muss grundsätzlich geerdet sein. Die jungen Priester sollen wahrnehmen können, was ihnen als Lebenswirklichkeit begegnet, was die Realität des Lebens ist. Und sie dürfen das nicht verwechseln mit dem, was sie sich wünschen, wie die Lebenswirklichkeit idealerweise sein sollte. „Realität ist Autorität“, das ist ein Zitat von Ruth Cohn, der Gründerin der Themenzentrierten Interaktionsmethode. Auf uns und die Kirche übertragen bedeutet das – ich will einmal ein Bild gebrauchen –, dass wir uns nicht mit den wunderbaren Barockbildern in unseren Kirchen beschäftigen sollten. Sie stammen aus einer anderen Zeit, in der die Menschen eine andere Lebensrealität vorgefunden haben, sie haben anders gelebt, geliebt und geglaubt … Demgegenüber finden wir unsere Bilder der heutigen Zeit beispielsweise in den täglichen Nachrichten, auf den Straßen oder in den Zeitungen. Die Frage ist grundsätzlich: Auf was schauen wir, worauf richten wir unseren Blick?

Was hat das mit der Seelsorge zu tun?

Unsere Kirche hat eine lange Tradition und viel Erfahrung. Und sie hat viele Schwierigkeiten, diese Erfahrung in die jeweilige Zeit zu übersetzen. Dies versucht ja im Moment der Synodale Weg. Unser Glaube gibt durchaus Antworten auf die Fragen von Menschen. Wenn wir als Seelsorger Antworten geben wollen, die die Menschen verstehen, müssen wir die Lebenswirklichkeiten von Menschen im Blick haben.

Was ist das Problem?

Platt gesagt: Was wir als Kirche verkaufen, findet keine Käufer mehr! Wenn wir Antworten geben auf Fragen, die viele Menschen gar nicht haben, dann interessiert das diese Menschen eben nicht.

Ein Beispiel?

Wenn wir mit einer Monstranz über den Petersplatz oder hier in Friedberg über unsere Felder gehen und glauben, dass wir mit dem Allerheiligsten den Menschen gegen Corona beistehen können, dann nehmen wir etwas wahr, was die Menschen mehrheitlich so nicht wahrnehmen. Für die meisten Menschen ist eine Monstranz kein Mittel gegen Corona. Vielmehr sehen manche darin eher eine Gefahr, dass wir das Virus bei einem solchen Umgang verbreiten könnten, sofern wir keine Hygienemaßnahmen einhalten. Corona ist ja keine Strafe Gottes, auf die wir eine kirchliche Antwort geben müssten. Es ist eine medizinische Frage oder vielmehr eine der Virologen. Deshalb haben Mediziner und Virologen darauf wirkungsvollere Antworten als wir und die Verantwortung für die Menschen.

Hat unsere Kirche, haben die Pallottiner, haben Sie keinen Blick für Lebensrealitäten?

Ich möchte nicht belehrend wirken oder mich distanzieren. Mein Blick ist ein Blick der Kirche, der Pallottiner und auch meiner Person – da möchte ich in diesem Fall gar nicht differenzieren.

Mir ist nur wichtig, dass wir gemeinsam wahrnehmen, dass jegliche Betrachtung und Bewertung dessen, was wir als „real“ empfinden, unserem „Menschenhirn“ entspringt. Und das ist begrenzt.

Als Mitglieder der Kirche können wir unser Lebenswissen, das wir uns in der Korrespondenz mit Gott angeeignet haben, weiterverschenken. Wir können es in der Absicht vermitteln, dass andere in ihrer jeweiligen Lebenssituation damit etwas anfangen können. Ob wir den Nerv der anderen treffen, das können wir nicht wissen. Wir säen die Samenkörner des Wortes Gottes aus, in der Absicht, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen. Wir sind aber nicht böse, wenn unsere Botschaft, wenn der Samen nicht aufgeht, höchstens traurig.

Vieles, was wir als real wahrnehmen, wird von anderen anders wahrgenommen. Dieses Bewusstsein ist – gerade in der Seelsorge – hilfreich. Denn es gibt so viele gute Gründe, eine unterschiedliche Sichtweise zu haben. Beispielsweise weil wir in einer anderen Region oder einer anderen Kultur aufgewachsen sind. Oder in einer anderen Zeit.

Ist das gut oder schlecht?

Das ist weder gut noch schlecht. Jeder Mensch sehnt sich letztlich nach dem, was er liebt. Und diese Sehnsucht gilt es in den Menschen und in uns selbst wachzuhalten.

Aus welcher Region und Epoche kommen Sie?

Ich stamme aus Zeutern, das ist ein kleiner Ort bei Bruchsal.

Dann haben Sie im berühmten Paulusheim Ihr Abitur gemacht?

Nein, ich habe auf dem Hersberg mein Abitur gemacht. Ein Nachbar aus Zeutern, Bruder Martin, war bei den Pallottinern in Immenstaad am Bodensee. Er hat mich eingeladen ihn zu besuchen. Damals – mit 13 Jahren – war es für mich ein Abenteuer, allein mit der Bahn an den Bodensee zu fahren. Wir hatten zu Hause „Kartoffelferien“, also schulfrei, um den Eltern bei der jährlichen Kartoffelernte zu helfen. Ich durfte allerdings in dieser Zeit die Pallottiner besuchen und habe so eine Woche lang das Internat und das Aufbaugymnasium der Pallottiner am Hersberg kennengelernt. Für mich war das ein aufregendes Leben dort im Internat der Pallottiner.

Sind Sie deshalb auch Pallottiner geworden?

Das hatte ich eigentlich nicht vor. Ich wollte Lehrer werden. Und habe mich von einem Freund überreden lassen, ein Jahr zur Probe ins Noviziat zu gehen. So dachte ich mir das damals zumindest.

Was hat Sie bei den Pallottinern gehalten?

Die Gemeinschaft. Das ist heute leider so nicht mehr erlebbar, weil nicht mehr so viele junge Leute gleichzeitig zu den Pallottinern kommen. Auf dem Hersberg waren es 18 Patres und 5 Brüder, davon waren die meisten jung und voller Tatendrang. Es war ein sehr dynamisches Miteinander und es herrschte eine ansteckende Aufbruchstimmung.

Was ist heute attraktiv für Novizen?

Wir sind immer noch eine bunte Gemeinschaft. Junge Menschen sind auf der Suche nach einem gelingenden Leben. Meine Erfahrung ist, dass man dieses bei den Pallottinern finden kann. Zumindest, soweit ein „gelingendes Leben“ in unserer Welt möglich ist. Um es biblisch zu sagen: „Komm und sieh!“ Nimm deine Lebenswirklichkeit wahr, nimm wahr, was für dich ein gelingendes Leben ausmacht, und übernimm dafür die Verantwortung. Wohlgemerkt übernimmt unsere Gemeinschaft keine Verantwortung dafür, dass das Leben der Mitbrüder gelingt, aber sie bietet den Raum dafür, dass es gelingen kann.

 

Das Interview führte: Josef Eberhard

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