Pater Sepp Wasensteiner SAC

Ohne das „Prinzip Liebe“ wird es nicht gehen

Pater Sepp Wasensteiner SAC stammt aus einem katholischen Elternhaus im oberbayerischen Lenggries, südlich von Bad Tölz. Er lebt und arbeitet seit August 1991 in der Pfarrgemeinde St. Raimundo, in der Stadt Codó (ca. 120.000 Einwohner) Bundesstaat Maranhão, im Nordosten Brasiliens. Pater José, wie ihn die Gemeindemitglieder nennen, legte 1980 seine Erste Profess ab und ist seit 1985 katholischer Priester. Er feiert im kommenden Jahr seinen Sechzigsten.

 

Sie haben drei Vornamen:  Josef – Sepp – José?
In meiner Taufurkunde steht Josef, in der Familie und bei den Pallottinern bin ich der Sepp und die Menschen in meiner Gemeinde sagen José. In meiner Heimat Oberbayern sagt man halt Sepp.

Ist der Isarwinkel noch immer ihre Heimat, obwohl Sie seit mehr als 25 Jahren – mit Leib und Seele – in Brasilien leben?
(lacht) Codó ist meine „Lebensheimat“! Oberbayern meine „Auftankheimat“. Ich habe im Isarwinkel meine Familie, meine Verwandten und meine Freunde leben dort. Ich liebe das bayerische Essen und die Berge. Ich liebe es, in den Alpen zu wandern. Dieser Tage konnte ich nach langer Zeit wieder einmal auf einer Almhütte übernachten.

Was ist ihr Lieblingsessen?
Na vielleicht, Schweinebraten mit Knödeln und Blaukraut und ein gutes Bier. Wir haben nicht weit vom Ort eine traditionsreiche Klosterbrauerei. Im Sommer kann man mit dem Rad in den schattigen Biergarten fahren. Ja, das genieße ich schon, wenn ich auf Heimaturlaub bin. Aber auch, dass ich mich frei bewegen kann, auch nachts auf die Straße gehen kann, ohne einen Überfall befürchten zu müssen. Aber dann zieht es mich auch wieder zurück zu unserer Gemeinde in Brasilien. Bleiben möchte ich in Lenggries nicht. Das würde mich mit der Zeit, ohne die großen Herausforderungen, nicht ausfüllen. Die Arbeit in Codó macht Sinn. Es ist eine Lebensaufgabe. Die Kirche ist die einzige Organisation, die sich dort für die Menschen einsetzt, die Leute brauchen uns. Ich bin auch stolz auf unsere Kirche, auf das fruchtbare Miteinander, darauf, dass wir Weggefährten sind. Das hat etwas Ursprüngliches und erinnert mich an die ersten christlichen Gemeinschaften.

Haben Sie Ihre Entscheidung, nach Lateinamerika zu gehen, schon einmal bereut?
Nein! Nie! Ich bin seit meiner Entsendung 1991 in der gleichen Pfarrei. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich am richtigen Ort bin. Die Arbeit gibt mir einen inneren Frieden. Ich hatte dieses Gefühl übrigens schon, bevor ich nach Brasilien gegangen bin. Schon vor der Abreise war ich mir innerlich ganz sicher, dass ich hier bleiben werde, und es gab seither auch keinen inneren Zweifel. Das heißt nicht, dass es leicht ist. Oder dass der Abschied damals leicht war.

Sie hatten Heimweh?
Der Provinzial entsandte damals drei Pallottiner nach Brasilien. Unsere Stadt liegt in Maranhão, dem ärmsten Bundesstaat, und wir haben gleichzeitig zwei neue Pfarreien übernommen. Seitdem mussten wir die Ärmel hochkrempeln, da kam kein Heimweh auf. Es war immer mein Wunsch gewesen, nach Südamerika zu gehen. Die Befreiungstheologie hat mich angezogen. Zuerst dachte ich, ich könne nach Uruguay gehen, und habe Spanisch gelernt. 1990 war dann klar, dass man uns in Brasilien braucht.

Ich erinnere mich aber sehr gut an das Noviziat. Wir durften damals ein Jahr lang nicht heimfahren. Das war für mich wirklich hart. Da hatte ich furchtbar Heimweh, später nicht mehr. Ich hatte eine sehr harmonische Kindheit, mit zwei Brüdern und einer Schwester. Unser Haus war immer offen, alle waren bei uns willkommen und so war die Stube immer voller Menschen. Wir gingen auch nicht groß weg, weil ja alle zu uns gekommen sind. Mit meinen Geschwistern bin ich heute noch sehr verbunden. Wir sind ein Herz und eine Seele. Es gibt da eine große Sensibilität füreinander. Jeder denkt verschieden, aber es gibt eine Grundübereinstimmung, da sind wir uns ähnlich. Mein Bruder Jakob ist ja auch Priester und Pallottiner und arbeitet ebenfalls in Brasilien. Der andere Bruder leitet das Aktionszentrum in Benediktbeuren und meine Schwester ist Religionslehrerin.

Was haben Ihre Eltern dazu gesagt, dass zwei Kinder Missionare geworden sind?
Für meinen Vater war es schwerer als für meine Mutter. Er war acht Jahre weg, vier Jahre im Krieg und vier Jahre in russischer Gefangenschaft. Das ist ihm sehr schwer gefallen. Unser Weggehen hat er mit seinen Kriegserfahrungen verbunden. Er hat oft geweint, wenn wir weggegangen sind.

Ist ihre Pfarrgemeinde auch so etwas wie eine Familie?
Der Auftrag der Kirche ist es, Antworten zu geben auf die Fragen und Nöte der Menschen. Kirche sein, Familie sein, Volk Gottes sein, ist die Grundantwort auf die Nöte und Sehnsüchte der Menschen. Das gilt weltweit, wobei arme Menschen in Brasilien mit einer Vielzahl von Nöten zu kämpfen haben. Das Leben ist oft hart. Wir versuchen mit den Menschen zu leben, Antworten zu geben und eine Kirche zu leben, die Kraft gibt, im miteinander Leben. Kirche sein ist bei uns sehr intensiv. Es ist eine junge Kirche, mit vielen jungen Menschen, mit einem quirligen Lebensgeist und vielen Personen, die aktiv mitgestalten.

Wir leben in ungerechten Strukturen. In unserer Gemeinde gibt es arme und sehr arme Menschen. Der tägliche Überlebenskampf der Gemeindemitglieder formt uns zu einer besonderen Gemeinschaft. Die starken Herausforderungen von außen schweißen die Menschen innerlich zusammen. Der „Feind“, wie Gewalt, Korruption, soziale Ungleichheit, Hunger, Arbeitslosigkeit, Verachtung der Würde des Menschen, Empfinden von „Nutzlosigkeit“, liegt außerhalb. Wir versuchen eine Alternativgesellschaft zu sein, wo Respekt vor der Würde des Einzelnen und dem Leben im Allgemeinen, in all seinen Formen, an erster Stelle stehen. Hier ist in den letzten Jahren sehr viel gewachsen: Glauben teilen, Liebe für Andere, Aktionen für den Anderen.

Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da beginnt das Reich Gottes, da geht das Samenkorn des Glaubens auf. Es ist wunderbar, wenn Leute zum ersten Mal mitsingen, vorsingen oder aufstehen und ein Mikro in die Hand nehmen und etwas sagen. Unser christliches Leben vor Ort ist etwas sehr Wundervolles. Im Alltag und im Gottesdienst passiert viel Schönes und Wichtiges.

Menschen, die all diesen feindseligen und bedrohlichen Mächten und Kräften tagtäglich ausgesetzt sind, erleben in der Gemeinde, konkret in den vielen Bewegungen und Gruppen, dass Hoffnung trägt, Kraft gibt, Mut macht, ja das Leben verändert. Menschen, die jedem Tag vom Tod bedroht, von der Gesellschaft verachtet werden, ständig Druck und Gefahren ausgesetzt sind, merken, dass ihr Glaube trägt. Menschen, die seit der Eroberung Südamerikas eine fünfhundertjährige Geschichte der Unterdrückung und Selbstentfremdung leben und erleben, fangen an, an einen Gott des Lebens, und an sich und ihre Kräfte zu glauben; fangen an, ihre Geschichte und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. In der Liturgie feiern wir es – existentiell: „Deinen Tod o Herr verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit!“

Das Leben ist in unserer Stadt oft bedrohlich. Das ist eine Grunderfahrung des Lebens. Da sind Jesu Tod und Auferstehung für uns greifbar. Jeden Tag sterben, jeden Tag auferstehen, den Sieg des Lebens feiern, dass das Licht stärker ist als das Dunkel – das erleben wir täglich. Das Leben geben für jemand und für etwas, macht Sinn und gibt Kraft. Das sind ja die Grundinhalte unseres Glaubens, das Geheimnis unseres Glaubens; und im Alltag merken wir, dass er uns wandelt und trägt.

Was bedeutet das konkret?
Seit einem Jahr haben wir eine neue Regierung, die durch einen Putsch an die Macht kam. Sie ist sehr rechtslastig und macht alle sozialen Errungenschaften wieder rückgängig. Die Armen sind die Gestraften. Es mehren sich Familien in der Gemeinde, denen das Lebensnotwendigste fehlt und die Hunger leiden. Wir sammeln bei der Gabenbereitung im Gottesdienst neben der Kollekte auch unverderbliche Lebensmittel, wie Reis, Mehl, Zucker, Öl, Nudeln. Nach der Messe nehmen sie die Menschen mit nach Hause, die sie gerade unbedingt brauchen. Das ist eine Art Umverteilung. Die Armen geben es den noch Bedürftigeren.

Ist das nicht auch Paulus? War für den heiligen Paulus nicht die Kollekte oder die „Gabe“ ein Gradmesser für die Wirksamkeit des Evangeliums in der Welt?
Paulus meinte wohl mehr den Austausch zwischen den Gemeinden. Die christlichen Gemeinden der damaligen Welt brauchten sich gegenseitig und profitierten von den unterschiedlichen Charismen, die in den Einzelgemeinden vertreten waren. Daneben sollten die Reichen den Armen etwas abgeben, nicht als „milde Gabe“ sondern als Güteraustausch: „Die vor Gott gleich sind, sollen es auch untereinander werden.“ Bei uns geben aber die Armen im Gottesdienst den noch Ärmeren, es ist Teil des Gottesdienstes, ein Ausdruck unserer geschwisterlichen Beziehung untereinander. So ist auch die Idee der Eucharistie: miteinander im Brot, das Leben allgemein teilen. Das macht Kirche so stark.

Der Sohn unserer Mesnerin hatte mit Drogen zu tun, wollte aussteigen und wurde auf offener Straße erschossen und angezündet. Aussteiger werden getötet, um die „Archive zu verbrennen“, oder wie sagt man auf Deutsch? Die kennen die Verantwortlichen im Drogengeschäft, er dachte, er könne untertauchen, das war an einem Freitagnachmittag. Ohne Gemeinde hätte unsere Mesnerin das nicht überlebt. Sie sagt: „Gott gibt mir Kraft.“ Diese Kraft kommt über die Gemeinschaft der Glaubenden. Gott wird erfahrbar in der Gemeinschaft der Glaubenden. Unsere Mesnerin zieht jetzt ihren Enkel auf. Sie schafft es, den Schmerz auszuhalten, ohne sich zu verstecken. Das ist die Kraft der Kirche, bei Schmerz, Trauer, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Die Gemeinde hilft spirituell und materiell, damit die Gemeindemitglieder über die Runden kommen.

Ist die ganze Kirche in Brasilien so organisiert?
Nein, die Südbrasilianer sind anders als die Menschen im Norden oder Osten, sie haben beispielsweise eine Orgel im Gottesdienst. Der Süden ist stark europäisch geprägt, sowohl von der Mentalität, als auch von der Kultur und vom Klima. Er ist hauptsächlich von deutschen und italienischen Auswanderern und deren Nachkommen besiedelt.

Bei uns im Nordosten stammen viele von Schwarzen und Indianern ab, sind die Nachfahren von Sklaven, die im Mittelalter von Afrika mit dem Schiff nach Brasilien transportiert wurden, um auf den Zuckerrohrplantagen der Reichen zu arbeiten oder die Frauen im Haushalt. Ein dunkles und trauriges Kapitel unserer Geschichte … Von daher dominiert in unserem tropisch heißen Klima am Äquator eine afro-brasilianische Kultur, Mentalität und auch Spiritualität.

Wir haben keine Orgel, bei uns gibt es Gitarren und Trommeln im Gottesdienst. Viele Jugendliche schließen sich zu einer Band zusammen. Und es wird viel getanzt. Schon die ganz kleinen Kinder machen die Bewegungen mit, das liegt vielen im Blut. In einem Kirchenlied heißt es: „Animiert vom Glauben und in der festen Überzeugung, dass wir siegen werden, stampfen wir mit dem Fuß auf und nehmen unser Leben in die Hand.“ Das ist nicht nur Kirchenlied, sondern auch eine Lebenserfahrung der Leute.

Es gibt bei uns den Spruch: „Auch ein schlechter Prediger kann eine Eucharistiefeier nicht verderben“, weil in Brasilien alles so lebendig ist und viele Menschen den Gottesdienst gestalten. Priester und Diakon sind ein wichtiger Teil, aber nicht der wichtigste. Da sind beispielsweise die „Kommentaristen“, die die Einführung machen und wichtige Erklärungen geben, etwa, wenn zu Beginn des Gottesdienstes angekündigt wird: „Jesus wird uns heute etwas ganz besonderes sagen“, und dann angedeutet wird, worum es in Lesung oder Evangelium gehen wird. Die Gemeindemitglieder tun sich im Alltag, aber eben auch im Gottesdienst leicht, ihr Leben mit anderen zu teilen und sich mitzuteilen. Die Leute erzählen gerne, was sie an der Frohen Botschaft angesprochen hat. Ich meine nicht nur „Bibel teilen“. In Europa sind wir nicht so gesprächig. Wir überlegen, was die anderen wohl über uns denken. In Codó kommen die eigenen Erfahrungen zur Sprache und werden verglichen mit jenen von Jesus und den Aposteln oder den Gedanken der Evangelisten.

Gottesdienst ist etwas Lebendiges und das hängt nicht nur vom Priester ab. Ich bin in der ganzen Liturgiefeier ein Rädchen. Einer der vielen Arbeitskreise Liturgie bereitet, je nachdem in welcher Kirche oder Kapelle der Gottesdienst stattfindet, den Gottesdienst vor und gestaltet ihn mit einem der 11 Kinder- und Jugendchöre.

Welche Tendenzen oder Impulse gehen von der Katholischen Kirche in Brasilien derzeit aus?
Die Brasilianische Bischofskonferenz ist sehr sozial eingestellt. Sie verteidigt im ganzen Land das Leben und hat die Tendenz, Glaube und Leben zu verbinden. Die Bischöfe versuchen, als Kirche eine Sensibilität für die sozialen Probleme zu erhalten. So setzen sie sich beispielsweise für die Situation der Frauen, der Kinder und für die Bewahrung der Schöpfung ein. Da gibt es vielfältige Möglichkeiten: Offene Seminare, Kreuzwege, Predigten, Nachtwachen … Unser Bischof ist ein sehr liebevoller, demütiger Mensch, ein besorgter Mitbruder. Er steht den Menschen und vor allem uns Priestern bei, wenn es Probleme mit Großgrundbesitzern oder um Wahlbetrug auf Diözesanebene geht.

Im Kontrast dazu haben wir die „Medienkirchen“, mit lautem Halleluja. Bei einer Sendung sollte man zum Beispiel ein Glas Wasser vor den Fernseher stellen, der Priester hat es dann gesegnet und wenn man es trinkt, tut es einem gut – sagen sie. Die Medienkirchen haben Geld und ihre plakative Botschaft kommt in vielen Landesteilen bei den Menschen gut an. Sie werden von den großen TV-Kanälen gesponsert, weil sie die soziale Seite des Evangeliums völlig ignorieren.
Mehr Priester als früher laufen wieder mit der „Kalkleiste“ herum und „Sängerpatres“ sorgen für Einschaltquoten.

Sie haben vor ein paar Jahren sinngemäß gesagt: „Die Arbeit der Missionare hat sich gewandelt, erst haben wir den Menschen einen Fisch gegeben, dann haben wir sie mit Angeln und Netzen ausgestattet und heute sorgen wir für einen Rechtsbeistand, damit die Menschen fischen können.“ Sie berichteten damals, dass das Engagement der Kirche für die Rechte der Armen und gegen die Zerstörung der Schöpfung nicht gerne gesehen wird. Sie erhielten Morddrohungen. Ist das noch aktuell?
Einige Großgrundbesitzer oder Unternehmer wären sicher froh, wenn ich weg wäre. Gewalt regiert und das menschliche Leben zählt wenig. Mit der Waffe ist man gleich zur Hand. Es gibt derzeit aber keine konkreten Morddrohungen direkt gegen mich. Ich bin bekannt, das ist vielleicht hilfreich. Manchmal errege ich Aufsehen. Von anderen höre ich auch, dass ich als Priester der Katholischen Kirche nach wie vor Anstoß und Ärger bei den Großen errege, weil manche denken, dass sich ein Priester in gewisse Angelegenheiten wie Politik und Wirtschaft nicht einmischen sollte. Dabei wird es immer wichtiger, dass die Kirche für die Rechtlosen Partei ergreift, sie verteidigt und auch einen Rechtsbeistand ermöglicht.

Sollte sich die Kirche nicht besser aus staatlichen Angelegenheiten heraushalten?
Wenn Menschen nur noch als Ware Bedeutung haben, wenn Menschen in der Wegwerfgesellschaft weggeworfen werden, dann muss Kirche auf der Basis der Frohen Botschaft eine Alternativgesellschaft entwerfen. In der Kirche müssen Menschen erfahren können, wie wertvoll sie für die Welt sind. Wenn wir miteinander den Glauben teilen, entsteht ein neues Miteinander.

In den Gemeinden erfahren wir etwas anderes als in der Gesellschaft, wo die Kinder keinen Ort zum Spielen haben, oder wo jemand zwei Stunden in der Bank warten muss, bis er Geld einzahlen oder abheben kann, während ein Herr mit Nadelstreifenanzug an der Schlange einfach vorbeigeht und am Schalter sofort drankommt. Das Gleiche kann man beim Arzt beobachten. Diese Erfahrungen in unserer Zweiklassengesellschaft wirken in den Gottesdienst hinein und die Erfahrungen im Gottesdienst wirken in die Gesellschaft hinein. In der Gemeinde ist man nicht nur geduldet, man ist wichtig.

Aber darf man sich in die Politik einmischen?
Unsere Gesellschaft kennt vielfältige Herausforderungen. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit und ein lahmendes Wirtschaftssystem. Wir haben ein katastrophales Bildungs- und Gesundheitswesen. Nachts werden zum Teil keine Notfälle angenommen, weil das Personal schläft oder nach Hause gegangen ist. In Praxen und Krankenhäusern gibt es zu viele Fehldiagnosen, zu viele Versorgungslücken, zu wenig Medikamente. Nach meinem Unfall – ich wurde auf der Straße von einem Motorrad angefahren, der Fahrer beging Unfallflucht und wurde von der Polizei nie gesucht und noch weniger gefunden – hätte ich eigentlich Thrombosespritzen bekommen müssen, da ich über einen Monat mit gebrochenem Bein in der Hängematte lag. Außerdem war nach ein paar Tagen kein Antibiotikum mehr da. Trotzdem hatte ich Glück und überlebte, zu viele andere sterben. Dabei ist es ganz normal, dass Straftaten, wie Mord oder Unfallflucht, von der Polizei nicht aufgeklärt werden.

Derzeit gibt es in Brasilien einen starken Rechtsruck. In Deutschland sieht es so aus, als hätte die Mehrheit eine korrupte Präsidentin gestürzt. Das ist nicht der Fall. Die Präsidentin Dilma Rousseff hat Gelder im Haushalt umgeschichtet, es gab keine persönlichen Bereicherungen. Vielmehr wollte die reiche Oberschicht die vielen sozialen Reformen nicht mehr hinnehmen: Mindestlohn, Stipendien für Arme, Abschaffung von Schulgeld, staatliche Schulen die zur Hochschulreife führen, Herabsetzen des Rentenalters, Kredite für Arme – das hat vielen geholfen und wird jetzt wohl wieder rückgängig gemacht. Jetzt soll nur noch in Privatschulen die allgemeine Hochschulreife zu erwerben sein. Die Gesundheitsabgaben sollen eingefroren werden, dabei sind die Menschen schon jetzt unterversorgt.

Die Brasilianische Bischofskonferenz ist gegen die Abschaffung der sozialen Errungenschaften, da sie nur den Reichen nutzt und den Armen schadet. Die Kirche unterstützt auch die Streiks. Beim Schutz der Menschen muss die Kirche vielfach eine Rolle übernehmen, die eigentlich der Staat übernehmen müsste.

Den Rechtsruck gibt es ja auf vielen Kontinenten. Und das Rentenalter wird auch bei uns angehoben.
Das Problem ist, dass die Menschen mit 16 noch keinen festen Job bekommen. Das müssten besonders arme Leute aber, da sie 49 Jahre in die Rentenkasse einzahlen sollten, um im Alter abgesichert zu sein. Also sind die Armen nicht abgesichert. Das ist ungerecht und sorgt für viel Elend.

Steht die Kirche nicht traditionell auf der Seite der Mächtigen?
Nein, so pauschal kann man es nicht sagen. Während der brasilianischen Militärdiktatur gab es auch viele kleine christliche Gruppen, die massiven Widerstand leisteten. Es ist die gleiche Kirche, die mit den Eroberern kam und von den Eroberungskriegen profitierte, und gleichzeitig gab es Kirchenleute, die sich für die Verteidigung der Urbevölkerung einsetzten. Und heute gibt es Bischöfe, die Präsident Michel Temer unterstützen, und eine Mehrheit, die „leicht links“ steht.

Warum tut sich die Mehrheit der Bischöfe und des Kirchenvolkes normalerweise mit dem „links“ so schwer?
„Sozial“-ismus, wäre eigentlich ein sympathisches Wort, wenn es das Soziale in den Mittelpunkt stellen würde. Die Menschen haben zu Recht Angst vor dem in Russland praktizierten Sozialismus oder Kommunismus. Wo Gewalt an die Stelle von Liebe und Menschlichkeit tritt und der Gott des Lebens ausgeklammert wird, wird ein System nie dem Menschen gerecht werden.

Das war ein Unrechtssystem, in dem die Würde des einzelnen Menschen keine Rolle gespielt hat. Wie auch in der brasilianischen Militärdiktatur wurde in Russland gefoltert um des Systems willen. Und das System war menschenfeindlich. Die Angst vor diesem Unrechtssystem wird heute immer wieder geschürt und instrumentalisiert, die Propaganda nutzt die Ängste der Menschen für ihre Zwecke.

Die Klöster leben vielleicht den „perfekten“ Sozialismus. Oder die Indios, die heute noch ihre Felder gemeinsam bewirtschaften. Das kapitalistische System ist egoistisch. Würden wir sozialer denken, gäbe es vielleicht keine Großgrundbesitzer und keine Armen.

Die Päpste geben hier Gott sei Dank gute Denkanstöße, vor allem in den Dokumenten der katholischen Soziallehre. Wir müssen umdenken. Wir brauchen eine neue Ethik. Und wir müssen alle unsere Feindbilder überprüfen und möglicherweise aufgeben. Ohne das „Prinzip Liebe“ wird es nicht gehen.

Welche Bedeutung haben Vinzenz Pallotti und die Pallottiner in Ihrer Arbeit?
Ich bin gerne Pallottiner. Alle sind zum Apostolat berufen. Wir wollen die Getauften in ihre Verantwortung einbinden. Da habe ich in Brasilien offene Türen angetroffen.

Unsere Pfarrgemeinde hat 83 Basisgemeinden im Landesinneren. Diese Arbeit könnte und sollte ein Priester gar nicht alleine machen. Die Laien haben eine besondere Verantwortung. Zum Beispiel bei der Tauf- oder Ehevorbereitung und in der Feier der sonntäglichen Wortgottesdienste auf den Dörfern. Ich habe Respekt vor den Gemeindeverantwortlichen. Man muss geteilte Verantwortung allerdings auch aushalten können. (je)

 

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