"Mit Gott, da geht noch was"
Zu Besuch bei der pallottinischen Gemeinschaft Berlin Neukölln
Tag 1
In einer Hand den Stadtplan, wandere ich die Graffiti-verschmierten Häuserfronten entlang und halte nach einer kleinen grünen Tür Ausschau. Das pallottinische Provinzialat im idyllischen Friedberg habe ich vor fast neun Bus-, Bahn- und Zugstunden hinter mir gelassen und fühle mich ein wenig, wie Alice im Wunderland: ich bin in Berlin. Drei Tage lang will ich die pallottinische Gemeinschaft in Neukölln besuchen und mir ihre Arbeit anschauen. Mein Kontakt vor Ort ist Pallottinerpater Karl Hermann Lenz, dessen Kontaktdaten ich mir sorgfältig notiert hatte. Ich bin drauf und dran ihn anzurufen und um geografischen Rat zu fragen (nachdem mich mein Smartphone im Stich gelassen hat), als ich endlich die grüne Eingangstür der Gemeinde St. Christophorus mit dem Projekt „Kirche im sozialen Brennpunkt“ finde. Ich bin angekommen. Kaum habe ich mein Köfferchen über die Türschwelle gezogen, kommt mir auch schon ein Schwung Menschen aus der Kirche entgegen – mit ihnen besagter Pater Karl Hermann Lenz, der sich gleich als „Kalle“ vorstellt und mich aufs Herzlichste begrüßt. Im ersten Stock lerne ich die anderen Mitglieder der Gemeinschaft kennen: Bruder Klaus Schneider, der u.a. das Projekt „Pallotti-Mobil – Bedürftige helfen Bedürftigen“ betreut, und Pastoralreferentin Lissy Eichert, deren Auftritte beim Wort zum Sonntag ich schon länger verfolge. Während wir den Abend bei eigen Videos von pallotti media ausklingen lassen – und wieder einmal staune ich über die vielen Verzweigungen des pallottinischen Netzwerkes: pallotti media kannte ich bisher gar nicht – versuche ich einen Plan für die kommenden Tage zu machen. Meinen anfänglichen Plan: „Ich möchte alles sehen“ gebe ich recht schnell auf – dafür hat die Gemeinschaft viel zu viele Projekte und Baustellen. Also schaue ich mir an, was zeitlich passt und hoffe im Stillen, dass ich die „Pallottis“ – wie sie in Berlin genannt werden – nicht allzu sehr von ihrer Arbeit abhalte.
Tag 2
Am ersten Morgen folge ich Klaus ins Erdgeschoss zur Team-Besprechung von Pallotti-Mobil. Während sich der Geschäftsführer anschließend ins Büro aufmacht, nimmt mich Projektleiter Yakob, ein äthiopischer Ingenieur, der schon seit über 30 Jahren in Deutschland lebt, mit auf die Baustelle. Mit seinem Team renoviert er Wohnungen von Sozialhilfe-Empfangenden und unter dem Existenzminimum Lebenden. Die heutige Tour führt sie in ein Berliner Frauenhaus, wo sie ebenfalls bei Umzügen und Renovierungen helfen.
An der Tür bleibe ich stehen und mein entsetzter Blick wandert von der Tür zu ihm – und wieder zurück zur Tür. Einen Moment ist er irritiert, dann bemerkt auch er die kleine Glasscheibe der Eingangstür, die wohl jemand mit einem spitzen Gegenstand einschlagen wollte. „So etwas sehe ich schon gar nicht mehr“, meint er nur. „Wenn ich meinen festen Glauben nicht hätte, weiß ich nicht, ob ich das hier durchstehen würde“, hatte er anfangs zu mir gesagt und je länger er von seiner Arbeit erzählt, desto mehr kann ich ihn verstehen. Das Pallotti-Mobil hilft Menschen, die am Rande vergessen wurden und sagt nur selten dringende Fälle ab: vor allem, wenn die Renovierung für die Mitarbeitenden gesundheitsgefährdend wäre. „Denn wenn wir nicht helfen, wer dann?“ So erzählt Yakob von einer armen älteren Dame mit einem Kontinenz-Problem, der sie den alten Teppich gegen leicht reinigbares Laminat getauscht hatten oder von zahlreichen anderen Problem-Baustellen. „Dass im reichen Deutschland Menschen in solch einem Dreck leben, hat mich echt schockiert.“ Einmal wollten das Team einer Frau beim Umzug aus ihrer Wohnung ins Frauenhaus helfen – und plötzlich stand der vermeintlich gewalttätige Partner vor der Wohnungstür. „Wir wussten ja nicht: hat der vielleicht ein Messer? Greift er die Frau oder uns an?“ Manchmal brauchen sie bei so einem Einsatz die Begleitung der Polizei. „Doch das Glück in den Augen der Menschen nachher lässt sich mit keinem Geld der Welt aufwiegen.“ Sein Traum wäre, irgendwann weitere Stationen des Pallotti-Mobils in anderen Teilen Berlins aufzumachen – Bedarf gäbe es genug.
Inzwischen ist es Mittag geworden und während das Team des Pallotti-Mobils noch die Wohnung im Frauenhaus streicht, geht es für mich zurück nach St. Christophorus, wo ich Kalle und seiner Gitarre in die KiTa St. Christophorus folge. Die Kinder begrüßen ihn lautstark, folgen jedoch mucksmäuschenstill seinen Liedern und schaffen das abschließende Gebet textsicherer, als manch ein sonntäglicher Kirchenbesucher. Nach dem Mittagessen geht es weiter: gemeinsam radeln wir zur Teambesprechung der pastoralen Hauptamtlichen nach St. Clara. Einleitend darf jeder am Tisch erzählen, was ihn gerade bewegt.
Das Interesse an den Sorgen und Nöten anderer ist ein Konzept, an dass ich mich nach jahrelanger Arbeit in der freien Wirtschaft (und einer nicht unwesentlichen Burnout-Rate unter den Kollegen) erst gewöhnen musste und auch nach Monaten kirchlicher Redaktionsarbeit noch herrlich erfrischend finde.
Abends geht es weiter: Gemeinsam mit Lissy und dem aktuellen Praktikanten Lucas Schillinger radeln wir zur benachbarten Gemeinde St. Richard. Gleich neben der Kirche des Würzburger Pallottinerpater Alois Hofmann findet in den Wintermonaten jede Woche das Nachtcafé statt. Regelmäßig bekommen hier zwischen 50 und 70 Arme und Obdachlose Kaffee und Kuchen sowie anschließend ein leckeres Abendessen. Wer möchte, kann vor Ort übernachten. Ein Team aus Freiwilligen kocht und serviert, hilft beim Auf- und Umräumen und hat ein offenes Ohr für die Gäste. Während des Essens verschwindet Lissy mehrfach mit dem Erste-Hilfe-Koffer um die eine oder andere Verletzung zu verarzten.
Pater Hofmann lädt anschließend noch zu einem Gebet in die Kirche ein. Während im Nachbarsaal die Isomatten ausgerollt werden, nutzen manche Gäste die Chance, den Abend mit Musik und Gebet ausklingen zu lassen. (An dieser Stelle ein herzlicher Dank an jene Gäste, die mir die Aufnahme eines Fotos gestattet haben). Doch wer denkt, dass damit das Tagwerk getan sei, der kennt die Berliner schlecht: mit abendlichem „Heiß Beten“ (freitags 22-23.30Uhr) wird das Wochenende eingeläutet. Hier kommt eine kleine Gruppe in der Kirche zusammen, um gemeinsam zu singen, dem Herrn zu danken ihre ganz persönlichen Bitten vorzutragen.
Tag 3
Der nächste Morgen beginnt für mich ruhiger und da mein letzter Besuch in der Hauptstadt schon einige Jahre her war, nutze ich die Chance für eine schnelle Runde durch die Innenstadt. Berlin ist eine Stadt der Gegensätze: hier trifft extremster Reichtum auf immense Armut und reichhaltige Historie auf die Moderne. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Städten verschließt man vor dieser Tatsache in Berlin nicht die Augen und macht einen Bogen darum. Während ich am Alexanderplatz fotografiere, lässt sich ein Obdachloser unter einem Kunstgebilde nieder und versucht sich mit Decken und Mülltüten vor der Kälte zu schützen. Es dauert nur wenige Momente; dann tritt ein junger Mann auf ihn zu und reicht ihm eine Tüte des nur wenige Meter entfernten Bäckers.
Viel Zeit bleibt mir jedoch nicht, denn Kalle hat mir ein Treffen mit „ihren“ Medienleuten organisiert. Mit einer gelungenen Homepage, einem Social-Media Manager und einer eigenen Video-Produzentin ist St. Christophorus im Medienbereich ungewöhnlich gut aufgestellt und es wird ein spannendes und äußerst inspirierendes Treffen, aus dem ich einen Kopf voller Ideen und Pläne mitnehme.
Samstagabends ist es für mich – leider – ein „entweder – oder“. Schon seit Jahren geht die Gemeinschaft an diesem Abend mit warmem Tee und belegten Broten zu den meist obdachlosen Menschen am Bahnhof Zoo. „Früher, als dort noch ICE-Stop war und viel mehr Menschen unterwegs waren, waren dort auch viele Stricher – die haben die Brote auch gerne genommen“, erinnert sich Klaus. Doch zumindest diese Szene sei verschwunden – wohin, wisse man nicht. „Der Bahnhof Zoo ist bei deinem nächsten Besuch auch noch da mit vielen Armen und Obdachlosen“, sagt Lissy – eine traurige Tatsache.
Und so geht es, während Kalle mit einigen Freiwilligen und Tee und Brote loszieht, für mich in den Heimathafen Neukölln. „Ultima Ratio“ heißt das Bühnenstück, das ich mir anschaue: ein Kirchenasyl-Fall aus St. Christophorus als Live Graphic Novel. „Wir haben uns entschieden und nehmen am Donnerstag auf“, steht irgendwann in schwarzer Tinte auf der Leinwand: ein Zitat von Lissy. Aufnehmen, sich öffnen und zulassen scheint ein Grundcharakter der Berliner Gemeinschaft zu sein, der sie über die Jahre mit vielen ganz unterschiedlichen Menschen und Projekten ins Gespräch gebracht hat.
„Ich möchte nicht einem Traum hinterherlaufen, sondern viel mehr gleich mit Gott träumen“, erzählt Kalle. „Viele unserer Projekte mussten wir gar nicht initiieren, sondern nur zulassen. Da haben Leute mit existenziellen Bedürfnissen an unsere Türe geklopft und suchten nach Raum und Möglichkeiten.“ Im Angesicht der vielen existentiellen Probleme und Nöte, mit denen sie jeden Tag konfrontiert werden, seien sie im Vertrauen auf Gott immer mutiger geworden. „Mit Gott, da geht noch was.“
Mehr Informationen zu den vielen Aktionen, Projekten und Angeboten von St. Christophorus finden Sie auf: www.christophorus-berlin.de
Das könnte Sie auch interessieren