Wo ist Geschwisterlichkeit in der Welt?
Die September-Reflexion für UNIO-Mitglieder kommt aus Kanada
„Gott ist die Liebe – und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1Joh 4,16)
Papst Franziskus beginnt seine Enzyklika „Fratelli Tutti über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“, indem er über den heiligen Franz von Assisi spricht, der in einem Schreiben zu einer Liebe einlädt, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt. Er nennt hier den Menschen selig, der den anderen, „auch wenn er weit von ihm entfernt ist, genauso liebt und achtet, wie wenn er mit ihm zusammen wäre“.
Der heilige Vinzenz Pallotti lehrt dieselbe universale Liebe, wenn er sagt: „Wenn wir wirklich vom Geist der Liebe beseelt sind, werden wir immer alle mit Liebe behandeln, wir werden alle mit Liebe betrachten, wir werden an alle mit Liebe denken und von allen mit Liebe sprechen.“ (OOCC IV,338)
Wir können uns fragen: Wo ist denn diese Geschwisterlichkeit in der Welt zu finden? Wo ist diese universelle Liebe? Denn noch nie war die Welt so gespalten wie heute, eine Welt, in der die Menschen fast nur mit ihren eigenen Bedürfnissen, ihren eigenen Rechten, ihren eigenen Wünschen beschäftigt sind, und die Augen vor der Not der anderen schließen. Wo ist der Geist der Liebe? Obwohl wir in einer Welt leben, die durch die Wunder des modernen Reisens und der Technologie kleiner geworden ist, leben wir in einer
zersplitterten Welt, man kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass zwischen Menschen und Völkern unüberwindbare Abgründe bestehen, und dass die Antwort vieler auf das Leid und die Armut unendlich vieler Mitmenschen herzlose Gleichgültigkeit ist.
Papst Franziskus ruft uns auf, über uns selbst hinauszuwachsen: „Aus der Tiefe eines jeden Herzens schafft die Liebe Bindungen und erweitert die Existenz, wenn sie den Menschen aus sich selbst heraus zum anderen hinführt. Die Liebe lässt uns zur universalen Gemeinschaft streben. Niemand reift und wird der Mensch, der er werden soll, indem er sich isoliert. Liebe erfordert eine fortschreitende Offenheit, eine größere Fähigkeit, andere aufzunehmen“, sagt Papst Franziskus. Denn: „Ihr seid alle Brüder.“ (Mt23,8)
Das Ziel all unserer Gedanken, Worte und Taten: Gott
Vinzenz Pallotti schreibt auch: „Die Mitglieder der Gesellschaft sollen sich mühen, alle ihre Gedanken, Worte und Taten, auch die indifferenten, also jene, die auf die Sorgen des alltäglichen Lebens gerichtet sind, mit einem glühenden und demütigen Geist des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu Gott und dem Nächsten zu erfüllen. Und dieser Geist des Glaubens, der Hoffnung und der Nächstenliebe wird seinerseits dafür sorgen, dass das Ziel all unserer Gedanken, Worte und Taten immer Gott ist, von dem alles Gute kommt“ (vgl. OOCC II,62-63).
Während der Covid-19-Pandemie haben sich viele von uns in dem Bemühen, das eigne Leben zu sichern und zu wahren, von anderen vielleicht abgeschottet. Zugegeben, es kann äußerst schwierig sein, enge Beziehungen aus der Ferne ohne physische Anwesenheit zu pflegen. Doch auch bei jeder neuen Welle der Pandemie gab und gibt es Gelegenheiten, persönlich mit anderen in Kontakt zu treten, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Es ist ein Gefühl von großer Freiheit und Freude, wenn sich diese Gelegenheiten ergeben. So wie wir in dieser Zeit unsere persönliche kleine Welt erweitern, um andere einzubeziehen, sollte es dann nicht auch möglich sein, unseren Verstand und unser Herz zu erweitern, um an andere zu denken, die nicht in unserer unmittelbaren Umgebung sind, und uns um sie zu kümmern: Unsere Brüder und Schwestern, die außerhalb der Grenzen unserer „kleinen Welt“ leben?
Kürzlich lud ein junges Paar Menschen ein, persönlich oder virtuell an ihrer Hochzeit teilzunehmen, um auch all diejenigen einzubeziehen, die aus verschiedenen Gründen sich in ihrer eigenen, kleinen Welt verschanzt haben. Das Paar ließ seine geladenen Gäste auch wissen, dass sie keine Hochzeitsgeschenke wünschten; sie hätten alles, was sie brauchten. Wer wollte, konnte stattdessen für eine Organisation spenden, deren Vision es ist, dass jedes Kind auf der Welt an seinem Ausbildungsort eine tägliche Mahlzeit erhält und baten darum, dass all diejenigen, die mehr haben, als sie brauchen, mit denen teilen, denen selbst die grundlegendsten Dinge des Lebens fehlen. Was könnte es für ein perfekteres und selbstloseres Geschenk geben, als ihren heiligen Bund und ihre Liebe zueinander zu feiern, indem sie ihre Gäste einladen, ihre Augen und ihre Herzen für die Bedürftigen in der Welt zu öffnen? Was für ein schönes Bild der Liebe!
Erfüllung finden in der Hingabe
Im dritten Kapitel seiner Enzyklika sagt Papst Franziskus: „Ein Mensch kann sich nur entwickeln, sich verwirklichen und Erfüllung finden in der aufrichtigen Hingabe seiner selbst. Nur in der Begegnung mit dem anderen vermag er seine eigene Wahrheit vollständig zu erkennen. … Deshalb kann niemand ohne die Liebe zu konkreten Mitmenschen den Wert des Lebens erfahren. Hierin liegt ein Geheimnis echter menschlicher Existenz, denn das Leben existiert dort, wo es Bande gibt, Gemeinschaft, Brüderlichkeit; und es ist ein Leben, das stärker ist als der Tod, wenn es auf wahren Beziehungen und Banden der Treue aufgebaut ist. Andererseits gibt es da kein Leben, wo man den Anspruch stellt, nur sich selbst zu gehören und als Inseln zu leben: in diesen Haltungen herrscht der Tod“.
Wir haben während dieser Pandemie immer wieder gesehen, wie sich immer wieder Gruppen bildeten, gewissermaßen sich auf eine Insel, die nur ihnen gehörte, zurückzogen, die nur an sich selbst dachten und denen das Los ihrer Brüder und Schwestern in der Welt gleichgültig war. Wir sind aufgerufen, unsere Herzen und unseren Verstand auch für all diejenigen zu öffnen, die nicht in unserer physischen Nähe sind, die jenseits unserer „kleinen Insel“ leben. Wir sind aufgerufen, uns zu bemühen, in unserer Liebe zu allen Menschen vollkommen zu sein, nicht nur zu denen, die uns nahestehen und die wir mögen. Wir sind zu einer Liebe berufen, die über die Grenzen hinausgeht; einer Liebe, die echt ist und eine echte universelle Offenheit möglich macht. „Wer andere geringschätzt, für den gibt es Menschen erster und zweiter Klasse, mit mehr oder weniger Würde und Rechten. Damit leugnet er, dass wir alle Kinder Gottes sind“, schreibt Papst Franziskus.
Vinzenz Pallotti fordert uns auf, alle möglichen Mittel, Talente, Kenntnisse, Berufe, Beschäftigungen, menschliche Beziehungen, irdischen Gütern, alles zu nutzen und „in Ermanglung anderer Mittel wenigstens mit frommen Gebeten“ zu helfen, um den Glauben an Jesus Christus überall zu verkünden und die Liebe in der ganzen Welt neu zu entzünden. Er sagt uns, dass „Gott die Vollkommenheit und den Wert des Werkes seiner Geschöpfe nach der Gesinnung ihres Herzens und nach den Fähigkeiten eines jeden beurteilt“ (vgl. OOCC III, 145f).
Unser Gründer sagt uns immer wieder, „Das Wesen Gottes ist Liebe. Gott ist Liebe. Er liebt uns bedingungslos und grenzenlos und sucht unaufhörlich nach dem, was zu unserem Wohl ist. Er hat dies auf die vollkommenste Weise getan, indem er seinen eingeborenen Sohn sandte, um uns durch seinen Tod am Kreuz zu erlösen. Da alle Menschen als Geschöpfe lebendige Abbilder dieser Liebe sind, müssen sie danach streben, in ihrer Liebe zu jedem Menschen vollkommen zu sein.“ (vgl. OOCC IV,308)
Keiner ist eine Insel
Papst Franziskus beendet seine Einleitung zu „Fratelli Tutti“ mit dem „großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken. Bei allen: Dies ist ein schönes Geheimnis, das es ermöglicht, zu träumen und das Leben zu einem schönen Abenteuer zu machen. Niemand kann auf sich allein gestellt das Leben meistern. Es braucht eine Gemeinschaft, die uns unterstützt, die uns hilft und in der wir uns gegenseitig helfen, nach vorne zu schauen. Wie wichtig ist es, gemeinsam zu träumen! Allein steht man in der Gefahr einer Fata Morgana, einer Illusion, die einen etwas sehen lässt, das gar nicht existiert; zusammen jedoch entwickelt man Träume“.
Wir, als Einzelne und als pallottinische Familie, sind aufgerufen, ja, verpflichtet, zusammenarbeiten, um die Würde jedes Menschen anzuerkennen und uns für eine Welt einsetzen, in der alle sich als Geschwister sehen und wertschätzen. Keiner ist eine Insel. Wir sind nicht dazu bestimmt, als Inseln zu leben. Unser Gott ist ein Gott der unendlichen Liebe und der unendlichen Barmherzigkeit. Wenn wir nach seinem Bild geschaffen sind, sind wir dann nicht aufgerufen, uns um diese vollkommene Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern zu bemühen? Vielleicht können auch wir wie der barmherzige Samariter sein, auf den Papst Franziskus in seiner Enzyklika eindringlich hinweist, der seine Reise unterbrochen hat, um dem verwundeten Mann in seiner Not zu helfen. Wir können unsere Augen und Herzen für die Armen öffnen und unseren Weg unterbrechen, um anzuhalten und denen zu helfen, die leiden, von anderen verlassen oder ignoriert werden. Manchmal mag diese Aufgabe in einer Welt, die so zersplittert und chaotisch zu sein scheint, ziemlich entmutigend erscheinen. Kardinal Francis X. Nguyen Thuan, wurde als Erzbischof von Saigon durch die kommunistische Regierung von Vietnam für dreizehn Jahre in einem Umerziehungslager gefangen gehalten, davon neun Jahre in Einzelhaft, obwohl er weder angeklagt, geschweige denn verurteilt worden war. Während der Gefängniszeit schmuggelte er Botschaften an sein Volk auf Papierfetzen hinaus. Diese kurzen Überlegungen über die Hoffnung wurden handschriftlich weiterkopiert und in der vietnamesischen Gemeinschaft weiterverbreitet. Er sagte: „Der Weg der Hoffnung ist gepflastert mit kleinen Taten der Hoffnung auf dem Weg des Lebens. Ein Leben der Hoffnung entsteht aus jeder Minute der Hoffnung in diesem Leben.“
Überlegungen:
1. Wie kann ich über meine „kleine“ Welt hinausgehen, um andere in Liebe zu erreichen?
2. Wie kultiviere ich bewusst die Geschwisterlichkeit mit denen, denen ich begegne?
3. Habe ich mich jemals von anderen verlassen, ignoriert oder isoliert gefühlt? Bin ich in der Lage, mich in andere einzufühlen, die sich vielleicht so fühlen? Wie kann ich ihnen die Hand reichen?
4. Wie erkenne ich Christus in jedem Menschen?
Papst Franziskus beendet seine Enzyklika mit dem folgenden Gebet:
Herr, unser Gott, dreifaltige Liebe,
lass aus der Kraft deiner innergöttlichen Gemeinschaft
die geschwisterliche Liebe in uns hineinströmen.
Schenke uns die Liebe, die in den Taten Jesu,
in der Familie von Nazareth und in der Gemeinschaft der ersten Christen aufscheint.
Gib, dass wir Christen das Evangelium leben
und in jedem Menschen Christus sehen können,
dass wir ihn in der Angst der Verlassenen und Vergessenen dieser Welt
als den Gekreuzigten erkennen
und in jedem Bruder, der sich wieder erhebt, als den Auferstanden.
Komm, Heiliger Geist, zeige uns deine Schönheit,
die in allen Völkern der Erde aufscheint,
damit wir entdecken, dass sie alle wichtig sind,
dass alle notwendig sind, dass sie verschiedene Gesichter
der einen Menschheit sind, die du liebst. Amen.
Die „Monatliche Reflexion der UAC“
im September 2021
stammt von Isabel Bolhuis UAC (Emmaus)
aus Kanada
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