Bruder Willibald Wagenbach SAC

Er ist ein Meister des Lippenlesens

Am 18. Mai vollendet der in dem heutigen Limburger Stadtteil Eschhofen geborene Bruder Willibald Wagenbach sein 93. Lebensjahr. Mit einer Aktentasche unter dem Arm holt er seinen Gast in der Buchhandlung ab. Er zählt zu den 80.000 gehörlosen Menschen in Deutschland und besitzt die besondere Gabe, seine Gesprächspartner dennoch zu verstehen. Willibald Wagenbach hat gelernt, von den Lippen abzulesen. Mit seiner in dem Buch „Wer nicht hören kann, muss (ab)sehen!“ beschriebenen Technik hat er ungezählten gehörlosen und schwerhörigen Menschen zu einer besseren Kommunikation verholfen.

Wagenbach war nicht immer gehörlos. Er erzählt, wie er in Eschhofen mit vier Geschwistern aufwuchs (eine weitere Schwester starb schon bald nach der Geburt) und vom engen Kontakt zu seinem aus Hundsangen stammenden Großvater. Der Landwirt und Schuhmacher habe ihm früh das Lesen beigebracht, mit ihm Lieder gesungen, ihn gefördert. Der Opa hatte ihm auch von einem Vetter erzählt, der in Afrika bei den Pallottinern als Missionar tätig war. Das faszinierte Willibald sehr und so kam es, dass der Bub auf einem Spaziergang mit seinen Eltern den Wunsch äußerte, dass er diesem Vetter nacheifern wolle.

Mit zehn Jahren durfte er 1938 das Internat der Pallottiner in Koblenz-Ehrenbreitstein besuchen, das jedoch im Folgejahr aufgelöst wurde. „Ich ging dann aufs Gymnasium (damals Oberschule) in Limburg“, berichtet der 92-Jährige, der 1944 zur vormilitärischen Ausbildung einberufen und noch im selben Jahr zum Reichsabwehrdienst ins Eichsfeld, zwei Monate später zum Militär nach Koblenz beordert wurde und bald darauf an die Westfront nahe Luxemburg.

Bruder Willibald wollte eigentlich Priester werden. Als er seine Pläne frühzeitig aufgeben musste, war das für ihn eine Katastrophe. Er erzählt, wie er 1945 nach einem Bombenangriff auf eine Kaserne in Wiesbaden aus dem Keller geholt wurde und danach immer ein starkes Brausen im rechten Ohr hörte. 1947 gelang ihm mit vier Kameraden die Flucht aus französischer Gefangenschaft. „Ich setzte eine Baskenmütze auf und grüßte mit Bonjour; da wurde ich für einen Franzosen gehalten“, erzählt der alte Mann mit der ihm eigenen positiven, fröhlichen Ausstrahlung. Vom Rheingau über Koblenz, Vallendar und den Westerwald wanderte er zurück in seine Heimat und besuchte ab 1949 die Spätberufenen-Schule der Pallottiner in Limburg, die er mit dem Abitur abschloss.

„Das Brausen im Ohr war bei Klassenarbeiten und bei Prüfungen immer stärker geworden“, erinnert sich Wagenbach, der nach Olpe ins Noviziat der Pallottiner ging. Er weiß noch wie heute als er in der Osternacht 1954 von der seltenen Krankheit Meniére überrascht wurde. Das ist eine Erkrankung des Innenohres, das durch Anfälle von Schwindel, Hörverlust und Phantomgeräusche gekennzeichnet ist. Obwohl ihm der behandelnde Arzt von einem weiteren Studium abriet, studierte Wagenbach zwei Semester Philosophie an der Pallottinischen Hochschule in Vallendar, doch Meniére und Ohrensausen (Tinnitus) erwiesen sich als zu stark, weshalb er in Limburg als Bruder bei den Pallottinern eintrat.

„Zunächst arbeitete ich auf der Kanzlei und wurde 1969 mit deren Leitung beauftragt. Im März 1970 saß ich am Telefon und hörte plötzlich nichts mehr. Es war ein Hörsturz.“ Bruder Willibald wurde nach einer Erholungspause zur Philosophisch-Theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar versetzt und übernahm dort später die Leitung der Bibliothek. 1972 musste er sich einer Ohren-OP unterziehen. Wagenbach: „Ich erwachte aus der Operation und alles war still; sie war erfolglos. Der Arzt schrieb auf einen Zettel: ‚Sie müssen das Absehen vom Mund erlernen‘.“

„In Frankfurt – so erfuhr ich – wurde in einem Institut dieses Fach gelehrt. Schon nach einem Jahr regte mich der Lehrer zu einem Kurs in Vallendar an. Dort und in den Abendkursen in Koblenz waren 17 Kurse mit jeweils 20 und mehr Teilnehmern gut besucht“, blickt Wagenbach zurück. Vom Deutschen Schwerhörigen-Verein erhielt er die Lehrbefähigung, weil er sich sein ganzes Leben lang für Menschen eingesetzt hatte, die ertaubt und verzweifelt waren. Er hat sie wieder aufgebaut, indem er sie in der Technik des Lippenablesens unterrichtet hat. Damit konnten sie sich wieder sicherer fühlen. Ganz im Sinne von Vinzenz Pallotti, der eine lebendige Kirche wollte.

Pater Leo Wiszniewsky, Rektor der Limburger Pallottiner-Niederlassung, schätzt Bruder Willibalds besondere Gabe als Prediger. Als solcher war er einst bei Gottesdiensten der religiösen Besinnungstage für Taube und Schwerhörige aufgetreten und hielt Ferienfreizeiten zum Thema: „Versagt Dein Ohr, lass Herz und Auge schweifen“. Auch die Gebärdensprache war Wagenbach vertraut, „…aber ich habe heute keine Übung mehr, weil ich niemanden mehr habe, der mit mir gebärdet. Und so hab ich das auch wieder verlernt“, räumt er ein.

1977 schrieb er auf Anregung seiner Kursteilnehmer das Buch „Wer nicht hören kann, muss (absehen)“. Durch Selbstversuche und Beobachtungen im Spiegel sei das Buch entstanden. „Das ist kein Absehen, das ist ein Kombinieren“, erklärt der Meister seines Fachs. Die Auflage war schon bald vergriffen. 1980 ermöglichte „Lions International“ mit einer Zuwendung die zweite Auflage, die ebenfalls schnell vergriffen war. 2003 bat der Deutsche Schwerhörigen Bund, das Buch ins Internet zu stellen. Jetzt kann es beim Deutschen Schwerhörigen Bund (DSB) als Diskette erworben werden.

„Die ‚Aktion Sorgenkind‘ hat in einem Jahr die Kosten für einen ganzen stationären Kurs übernommen“, sagt der Pallottiner-Bruder nicht ohne Stolz, der heute gerne per E-Mail korrespondiert und für seinen Einsatz mehrfach ausgezeichnet wurde. Unter anderem hat Bruder Willibald in Berlin die höchste Auszeichnung bekommen, die der DSB zu vergeben hat. Er hat Taub-Blinde betreut, Führungen veranstaltet und mit ihnen korrespondiert und er lehrte im Blindenzentrum in der Schweiz.

„Ich habe für mein Buch keine Reklame gemacht und mir gedacht, wenn es etwas taugt, dann ist es weg“, fügt er bescheiden hinzu. So ist es nicht verwunderlich, dass Bruder Willibald viele Kontakte im In- und Ausland pflegt, wo sein Buch angekommen ist. Die österreichische Schauspielerin Julia von Juni zum Beispiel, unter anderem bekannt als Kellnerin Erika in der Fernsehserie „Um Himmels Willen“, hat kreative Workshops in Gebärdensprache entwickelt und mit Bruder Willibald, der unter anderem im Fernsehen vorgestellt wurde, Kontakt gepflegt.

„Leute sagen immer, Gehörlose sprechen zu laut – weil wir uns nicht hören und einschätzen können “, sagt Wagenbach. Aber auch dafür hatte er ein Rezept. Um ihre Lautstärke zu regulieren, kombinierte er ein Babyphon mit einer Tischlampe, die sich einschaltete, wenn die Sprache zu laut wurde. „Ja, Ideen muss man haben“, sagt er mit einem Blinzeln in den Augen und fragt unseren Reporter: „Kennen sie den Babyschrei?“

Und dann gibt es noch den waschechten Eschhöfer, der ihm schrieb: „Als Limburger darf ich Ihnen sagen, dass mir das „Schiewer Platt“ noch immer die liebste Sprache ist, eben meine Muttersprache. Und nun auf Limboierisch (ganz alt „lämberisch“ – „lämberier Platt“.

„Villeichd träffe me us mol un schwetze vu fruier – wie die Eschiewer un Limboier sich gekeilt hun.“

Text und Bild: Dieter Fluck

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