A
n jenem trübem Novembermorgen sahen wir sie
beide. Sie bückten sich, sammelten Olive für Olive
ein und warfen sie in einen Rupfensack. Giannito und
seine Frau. Der kleine Mann in schmutzigen Stiefeln und
löchrigem Pulli, seine Frau Emilia mit einer Wollmütze
auf dem Kopf und fleckiger Schürze. Giannito ist der
zweitreichste Mann im Dorf. Die Siebzig längst über-
schritten, arbeitet er eifrig. Sein altes Gesicht ist wie
Pergament, verbrannt von der ligurischen Sonne, aber
sein Oberkörper ist muskulös wie der eines Jungen. Sein
»Fitness-Studio« ist sein Land: sein Garten, sein Wein-
berg, seine Olivenhaine. Von klein an steht er täglich
mit der Sonne auf, trinkt einen Kaffee und isst zwei Kek-
se. Danach arbeitet er bis zum Sonnenuntergang. Seine
große Liebe ist seine Frau – und seine Ölbäume.
DAS NETZ MUSS ENG
UM DEN STAMM LIEGEN
I
m November ist in seiner Heimat Olivenernte. Die
Früchte sind reif. Kaum erholt von der Weinlese be-
ginnt Giannito seine Bäume abzuernten. Er hat seine
eigene Methode, die seines Vaters und Großvaters.
Nachdem die Netze unter den Bäumen ausgelegt und
miteinander mit Kunststoffnadeln verbunden wurden,
steigt Giannito auf die Leiter – er ist sehr klein – und
schlägt mit einem langen Bambusstock die dunklen
Früchte ab. Sie kullern in die Netze unter den Bäumen.
Es ist wichtig, das Netz eng um den Stamm des Ölbau-
mes zu legen, damit keine Olive verlorengeht. Tage-,
wochenlang hat der kleine Giannito, die großen Netzte
ausgelegt wie ein emsiger Fischer. Hunderte von Kunst-
stoffnadeln stecken darin und der Schweiß des Mannes.
Bein »Einholen des Fanges« - um beim Fischer zu blei-
ben - werden die Oliven mit der Hand oder einer kleinen
Schaufel in Säcke gefüllt. Danach ist erst einmal Pause
- für Giannito, der sparsam und fleißig ist, nicht. Jede
einzelne Olive, die den Weg nicht in den Rupfensack ge-
funden hat, wird mit der Hand aufgeklaubt. Emilia ver-
dreht die Augen. Sie hat keine Lust mehr. Mit lächelnden
Augen schaut sie halb belustigt, halb zärtlich auf ihren
Mann: »Oliven sind seine Liebe«, erklärt sie und lädt die
Säcke auf das kleine Lastwägelchen, eine »Ape« mit drei
Reifen, mit einer winzigen Ladefläche und einem noch
winzigeren Führerhäuschen.
»ÖL IST WIE GOLD«
A
m Abend ist Giannitos Wägelchen voll, und weite-
re Säcke warten vor dem Haus. Es ist schon dunkel
als er zur Ölmühle fährt, die in dieser Jahreszeit Tag und
Nacht arbeitet. Giannitos Termin ist in der Nacht, seine
Oliven werden erst am nächsten Morgen verarbeitet
sein. In der Ölmühle geht es moderner zu als in Gianni-
tos Reich. Elektrisch werden die Oliven gepresst, es rat-
tert und klappert, der Trester fliegt hinaus - und vorne:
das Öl! Goldgrün und etwas trüb läuft in regelmäßigem
Strahl in die Behälter.
Als alle Mühe ein Ende hat, besitzt Giannito 350 Liter
feinstes Olivenöl, erste Pressung, rein und - mit Liebe.
Das meiste wird er verkaufen. Aber nicht alles, denn - so
wie er und seine Vorväter sagten -: »Öl ist wie Gold.«
EIN SCHÄDLING MACHT
ALLES ZUNICHTE
R
oberto ist der reichste Mann in dem malerischen
Dorf. Sein prächtiges Haus klebt am Hügel wie ein
Schwalbennest. Von der Terrasse sieht man das unend-
liche Meer. Es schimmert in einem milchig-türkisen Ton,
am Horizont wird es tintenblau. Der Wind weht kräftig.
Es ist Dezember. Manche ernten noch jetzt in ihren Oli-
venhainen. Roberto ist fertig. »Giannito arbeitet mit ei-
ner archaischen Methode«, spottet Roberto und reibt
sich die kräftigen Hände. Er ist groß, nicht mehr jung,
aber gut aussehend. Er ist hart, sagen manche im Dorf.
Aber hart auch zu sich selbst. Roberto kennt keinen
Sonn- oder Feiertag. Sein weitläufiges Land ist Millio-
nen wert. Er könnte es verkaufen, doch woher würde er
dann das Öl gewinnen? Roberto schuftet in jeder frei-
en Minute im Olivenhain oder im Weinberg. Er hat gute
Netze, eine elektrische Pflückmaschine und unendlich
viel Geduld. Er liebt seine Frau Livia, aber er liebt auch
ÖL BRAUCHT LIEBE
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03. 2016